Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Da ist und bleibt er Pädagoge. Nur unterscheidet sich das Lernen im Freien darin von jeglichem Unterricht, dass es eher mit dem Körper als mit dem Geist geschieht. Gegen den Trend zu »Verkopfung« und »Verweichlichung«, den er und andere Pädagogen beklagen, sollen die Jungs in freier Wildbahn wieder ein bisschen tierischer werden. Auch wenn er das so nicht sagt, es läuft doch darauf hinaus. Was anderes als die Forderung nach einer zarten Enthumanisierung wäre es denn, wenn der Autor begrüßt,dass das Leben unter freiem Himmel zu Gleichgültigkeit gegen Kälte und Nässe und Anspruchslosigkeit in der Ernährung führt? Es ist ein Plädoyer für eine Abstumpfung der menschlichsten aller Sinne, der Haut und der Zunge, zugunsten einer Sensibilisierung von Augen, Nase und Ohren. Witterungsschärfe statt Wetterfühligkeit. Genau diesen zweckrationalen Zug vermisst Heinrich Leo beim Wandervogel, während er ihn an den Boy Scouts lobt. Und ihr Anliegen, das ja auch ihm besonders am Herzen liegt, sprechen seine englischen und amerikanischen Kollegen schließlich ganz offen aus: Wer mit den Pfadfindern auf Fahrt war, so die Idee, der wird sich im Felde nicht verwundert die Augen reiben. Wer gelernt hat, auf Luxusbedürfnisse zu verzichten, ein Zelt aufzubauen, sich bei Wind und Wetter durchzuschlagen, in unwegsamem Gelände die nächste Anhöhe nach der Karte zu finden – der wird einfach ein besserer Soldat.
Wiederfinden wird Friedrich den Vater auch beim bündischen Wandern nicht. Aber nie ist er ihm näher als im Matsch.
Für einen jungen Deutschen verschmolz um 1920 der Aufbruch ins eigene Leben mit dem Aufbruch in die Zukunft seines Landes. In dieser Stimmungslage – Nietzsche hatte ihr mit der »Morgenröthe« ein Bild gegeben – musste sich die Jugendbewegung, egal in welcher Form und Farbe sie an einen herantrat, für ihre Existenz nicht rechtfertigen. Man konnte kaum gegen sie sein. Aber man konnte sich fragen, ob man auch als Erwachsener noch zu ihr gehören wollte. Friedrich jedenfalls bejaht diese Frage, Martin verneint sie. Die beiden Brüder sind Teil der gleichen Generation, ja sogar der gleichen Altersgruppe, nämlich jener Jahrgänge ab 1901, die den Krieg in schmerzhafter Bewusstheit erlebt haben, ohne dabei gewesen zu sein. Es kann daher nicht verwundern,dass sich auch Martin der Jugendbewegung anschließt. Auch er ist in den Nachkriegsjahren Pfadfinder, als Student wechselt er 1922 zum »Jungdeutschen Orden« – um 1923 wieder auszutreten. Schon für den Zwanzigjährigen ist die Jugendbewegung ein Teil seiner Vergangenheit, eine Durchgangszeit zu anderen Bestrebungen , wie er schreibt. Diese Bestrebungen werden nicht nur auf sein privates Wohlergehen, sondern auch auf bessere Zeiten zielen. In seinem Idealismus bleibt also auch Martin durchaus jung. Für Friedrich dagegen, schreibt er, sei die bündische Jugend zu einem Lebenselement geworden. Wie treffend die Bemerkung ist, zeigt der Weg, den der Bruder als junger Mann einschlägt.
Als Friedrich 1925 das Gymnasium verlässt, tut er das ohne klares Ziel, aber mit einem starken Wunsch: Er will von nun an den ganzen Tag nichts als Erde unter den Füßen haben. Die Wahl der Forstlehre ist also durchaus keine Verlegenheitslösung. Auch soll sie der Familie zeigen, dass er mehr ist als ein Nachfahre bedeutender Schiffbauer und Gelehrter. Das ganze Gewese um die Leistungen aus der Vergangenheit geht ihm schon lange auf die Nerven. Er kennt das alles auswendig und kann es nicht mehr hören. Er will nun endgültig weg. Warum und wohin, das könnte er kaum sagen, es ist eben ein starkes Gefühl, und deshalb hat er auch eher Symbole als Begriffe dafür. Das Wort »Stadt« zum Beispiel reicht aus, um sich all das zu vergegenwärtigen, was ihn bedrängt und überfordert. Die pingelige Großmutter mit ihren zarten Gefühlen und Bedürfnissen. Die Schule mit ihrem lebensfremden Wissen. Die großen Brüder, die sich Gott weiß was auf Gott weiß was einbilden. Vor allem Martins stiller Perfektionismus provoziert ihn. Diese überlegenen Fragen desÄlteren, an denen alles stimmt, außer dass nichts an ihnen stimmt; dieses gelassene Schweigen auf seine gehetzten Antworten; und erst recht dieses Prinzengetue der Mutter und Großmutter, wenn Martin am Wochenende aus Marburg kommt. Sogar die alte Reichsfahne haben sie in der Treppenhalle ausgehängt, nur weil der hüftsteife Streber endlich mal eine höhere Tochter mit nach Hause gebracht hat. Frauenwirtschaft!
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