Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
offenbaren schien. Überhaupt ist Friedrich nicht gerade schüchtern. Er redet gerne, laut und viel, aber durchaus geschickt, und auch seine Selbsteinschätzung passt ins Bild: »Reichsadler«, antwortet er einem Onkel auf die Frage nach seinem Berufswunsch. Wenn der Vater ihn sich später gar als Reichskanzler vorstellen kann, ist das natürlich übermütiger Elternstolz, aber wenn man den kleinen Kerl da kerzengrade und zufrieden auf dem Baumstumpf stehen sieht, versteht man ihnschon. Es ist nun mal so: Ob Uniformen einen Menschen kleiden oder nicht, ist keine Frage des Schneiders und auch nicht des Alters, sondern des Charakters. Beim Anblick ihrer Bilder offenbart sich jedenfalls sofort die Wesensverwandtschaft, die den zukünftigen Sturmbannführer Friedrich mit dem ehemaligen Gardejäger Bismarck verbindet, während Martin in seinem Wikingerfummel ähnlich lasch wirkt wie wenige Monate später Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg in der Generalsuniform.
Der Vater erkennt in Friedrich den Sohn, den er sich schon lange gewünscht hat. Martin schätzt er zwar, aber der ist und bleibt eben ein Weichling; für den etwas linkischen Heinz kann sich niemand so recht erwärmen, irgendwie ist er nicht Fisch, nicht Fleisch (dass er später nie heiraten und seine Neffen allen Frauen der Welt vorziehen wird, hätte den Vater wohl entsetzt, aber kaum überrascht); und Johann, »der süße kleine Jan«, der im Herbst 1913 letztgeborene seiner Söhne, hatte sich schon bei der Taufe ein für alle Mal vergriffen, als er als einziger der vier Brüder nicht nach rechts fasste, zum über die Wiege gehaltenen Säbel, sondern nach links zur Bibel. Aber Friedrich – der könnte seinem Wehrerziehungsbuch entsprungen sein. Darum gefällt er ja auch der Schwiegermutter nicht.
Als der Krieg im April 1915 Ernst mit Heinrich Leo macht, ist Friedrich gerade sieben Jahre alt geworden. Zu jung, um den Vater als Gelehrten zu erinnern. Von wem der Junge nachts träumt und wen er sich heftig zurückwünscht, das ist nicht der Bewohner des luftigen Studierzimmers mit Wasserblick. Es ist der kräftige, erdverbundene Körper, der Wanderer und Soldat. Ihn wird er von jetzt an suchen, und da er nicht zu finden ist, will Friedrich schon bald nur noch einesvom Leben: die Gewissheit, dass sein Vater stolz auf ihn gewesen wäre. Was hätte er getan? – diese Frage wird ihm von nun an den Halt borgen, den er in sich selbst nicht finden kann. Wäre der Vater im Januar 1919 klaglos zurück ins Berufsleben gegangen? Hätte er sich irgendwann mit dem »System von Versailles« abgefunden? Oder hätte er, auf welche Weise auch immer, weitergekämpft? Und wie hätte er sich an meiner Stelle verhalten? Muss man mit so viel gerechtem Zorn im Bauch tatsächlich die Schulbank drücken? Stellen sich einem tatkräftigen jungen Deutschen 1925 nicht andere Aufgaben als 1895? Haben die Kriegstoten den Überlebenden, vor allem der Jugend, nicht einen unerfüllten Auftrag hinterlassen? Ist Gewaltverzicht in einem falschen Frieden nicht Verrat? Ist Rebellion in einem illegitimen Staat nicht eine höhere Form des Gehorsams? Kann das Scheitern in einer verdorbenen Gesellschaft nicht Hinweis auf eine höhere Berufung sein? Friedrich beantwortet diese Fragen, indem er wählt, was ihn ergriffen hat. Der Rastlose entscheidet sich für ein Leben in Bewegung.
Als ließe sie sich eingesperrt nicht atmen, hat es Friedrich schon immer an die Luft gezogen. Andauernd muss er rennen und klettern, aber was draußen eine Freude ist, kann drinnen schnell zur Qual werden. Seine Unfähigkeit, länger still zu halten, ist heute längst als Syndrom klassifiziert, damals nannte man es, zumindest in Bremen, einfach »Hibbeligkeit« oder »Jachterei« – ein Zustand, von dem schon wenige Sekunden ausreichen, um der Großmutter all ihre Gemütlichkeit auszutreiben. In gewisser Hinsicht ist der Krieg deshalb sogar ein Glücksfall. Wegen Personalmangels fällt nämlich die Volksschule aus. Ab Ostern 1915 wird Friedrich zusammen mit Anne Gülsen von einem Hauslehrerunterrichtet. Aber auch dieser eher zwanglose Rahmen kann nicht verhindern, dass sich der Beginn des Unterrichts wie ein Schock anfühlt. Die Zäsur kommt ja nicht allein. Kurz nach der »Einschulung« ist der Vater tot – man kann das ohne allzu viel Pathos ein jähes Ende der Kindheit nennen. Der Zusammenfall von Schulbeginn und Vatertod führt jedenfalls dazu, dass sich jene Lust am Lernen, die für Martin so
Weitere Kostenlose Bücher