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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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frei wählen konnte, entschied ich mich folgerichtig für einen Kompromiss: die amphibische Landschaft des nordfriesischen Wattenmeeres. In das Land meiner Kindheit aber hätte ich mich nur mit meinem Großvater zurückträumen können. Denn es war das Land seines Lebens.
    Bremen, Hamburg und Celle, das waren die ersten Städte, die ich bewusst kennenlernte. Aber aufgewachsen bin ich in keiner dieser Städte, sondern in der weiten Ebene, die von ihnen wie den Spitzen eines Dreiecks umschlossen wird. In einer Gegend, in der Wasser dicker ist als anderswo, langsamer fließt und sehr braun aussieht. Der typische, noch unbegradigte Fluss zieht hier wie eine aufgeschreckte Schlange seines Weges: Zielstrebig, aber nicht überstürzt macht er sichdurchs Gras davon. Wenn wir mit einem Stocherkahn aus Styropor die Grobe hinunterschipperten, wären wir nie auf die Idee gekommen, in ihr zu baden; von ihrem Wasser zu trinken, hatten die Eltern uns verboten. Wenn mein Vater die großen Rhododendronbüsche mit elektrisch gepumptem Grundwasser goss, lag über dem Garten ein süßlicher Moorgeruch. Wenn die Aller im Sommer aus ihrem flachen Urstromtal über die Ufer trat, verfingen sich manchmal aufgeschwemmte Tierkadaver im Stacheldraht; wenn sie es im Winter tat und Frost einsetzte, liefen wir Schlittschuh.
    Das Land ist wie gemacht für Radtouren. Im steten Wechsel von flachwelligen Endmoränen und weiten Ebenen, von Mischwäldern, Weideland, Feldern, Hochmooren und Heideflächen ist es mit einem dichten Netz aus Wegen überzogen, auf denen kaum Autos fahren. Je kleiner sie werden, desto mehr muss man aufpassen, dass die Räder im feinen Sand nicht ihren Halt verlieren. Wenn sie es doch tun, riecht es oft nach Kiefern, so wie es, wenn sie munter rollen, nach Heu oder Kuh riecht. Und manchmal auch nach Pferd, so wie auf dem Gestüt, das Freunde von uns in der Nähe von Eschede betrieben. Hier lernten meine Eltern Reiten. Im Spätsommer, wenn das Getreide eingeholt war und der Erde keinen Schatten mehr spenden konnte, ließen sich die Pferde auf dem trockenen Boden kaum noch im Zaum halten. Bevor sie sich auf den langen Weg der Selbstfindung begab, war »Stoppelfeld« eines der wenigen Wörter, die meine Mutter mit Andacht und Leidenschaft aussprach. Einmal nahm der Gutsbesitzer, ein Major der Bundeswehr, meinen Vater und mich nachts mit auf die Hirschjagd. Als er am nächsten Morgen den schon aufgeblähten Bauch des Zehnenders aufschnitt, die Hinterläufe auseinanderbog, bis irgendwelche Knochen krachtenund schwarzes Blut in den Sandboden sickerte, stank es entsetzlich. Der zähe Heidehonig, den man nicht weit vom Gut in einer Bauernkate kaufen konnte und den wir uns noch lange nach München schicken ließen, roch dagegen herb nach Harz und süß nach Heckenrosen.
    Wann immer ich in russischen Romanen von Landgütern lese, habe ich unwillkürlich das Bild eines gelben Hauses mit großer Treppe vor Augen, das, durch eine lange Zufahrt vor dem Lärm der Landstraße und durch hohe Bäume vor Blicken geschützt, neben einem verfallenen Schlösschen liegt und im Innern von einem Aroma aus Lederfett, gekochtem Kohl und prätentionsloser Rechtschaffenheit erfüllt ist. 1983 verbrachten wir auf dem Gut der Familie von Schliewe meine ersten bayerischen Sommerferien. Als uns dort Anfang September die Meldung erreichte, sowjetische Abfangjäger hätten ein südkoreanisches Passagierflugzeug abgeschossen, nannte Major von Schliewe die Mitglieder des Politbüros sarkastisch Friedensfürsten. Vielleicht hatte er den Ausdruck auch schon ein Jahr zuvor gebraucht, als wir an einem herrlichen Julinachmittag unseren Abschied aus Norddeutschland feierten. Es muss dabei viel fotografiert worden sein. Erinnern kann ich mich aber nur an ein einziges Bild. Es zeigt Großvater im Gespräch mit Hans-Joachim von Schliewe. Während er spricht, blickt der Soldat und Ausbilder des letzten Weltkriegs in die Ferne, sein Zuhörer, der Major des kommenden Weltkriegs, hat ihm den Kopf leicht gesenkt zugewendet. Umringt von Fanta trinkenden Kindern und lachenden Erwachsenen, wirken sie an diesem Festtag wie eine Insel des weltpolitischen Ernstes.
    Wir feierten, weil wir im Begriff waren, aus einer Neubausiedlung bei Celle ins Zentrum Münchens zu ziehen. Diemeisten Gäste kamen aus Bremen. Warum aber waren meine Gedanken fast die ganze Zeit über in Hamburg? Nun ja. Bevor ich im Oktober 1982, Hamburger Hooligans hatten gerade den Bremer Glaserlehrling Adrian Maleika

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