Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
charakteristisch ist, bei Friedrich gar nicht erst regt. Auf den Wechsel ans Gymnasium, der Ostern 1918 ansteht, ist er äußerlich notdürftig, innerlich aber überhaupt nicht vorbereitet. Was Martin vom ersten Tag an als Ort der Anregung und Ermutigung erlebt, wird für Friedrich nichts als ein Haus mit dicken Mauern bleiben, älter und größer noch als das der Großmutter – und zugleich unerträglich leer, weil er immer noch erwartet, hier den Vater anzutreffen. Wie gerne hatte der sich bis in den Spätsommer 1914 von seinem strammen Söhnchen bis zum Schultor bringen lassen!
Das Klassenfoto der Vegesacker Untertertia von 1921 aber hätte dem Vater gar nicht gefallen. Es ist im Unterricht aufgenommen, die Szene wirkt auf den Betrachter ein wenig unübersichtlich. Doch nicht nur, weil er weit hinten sitzt, muss man Friedrich suchen – sondern weil er sich zu verstecken scheint. Hat man ihn einmal entdeckt, sticht direkt ins Auge, wie anders er sich verhält als seine Mitschüler. Alle anderen wirken mit der Situation einverstanden. Sie mögen gucken, wie sie wollen: verbissen oder offen, selbstbewusst oder schüchtern, um Natürlichkeit bemüht oder um Pose – sie bieten dem Fotografen ihr Gesicht. Friedrich aber geht in Deckung. Auf der Bank hat er vor sich einen Block oder eine Mappe aufgebaut, wie eine Mauer, hinter die er sich so tief duckt, dass Oberkörper und Hals unsichtbar sind und er vonunten in die Kamera blicken kann. Verstohlen sieht das aus. Man wartet förmlich auf den Schuss aus der Zwille.
Dass Friedrich es für ein paar Jahre überhaupt im Klassenzimmer aushält, ist vermutlich den Pfadfindern zu verdanken. Der junge Bund immunisiert ihn gegen die Ansprüche der alten Institution, und nirgendwo fühlt er sich vor den betürmten Häusern sicherer als unter freiem Himmel. Kein Bruder, kein Freund, kein Steckenpferd, die jugendliche Gemeinschaft ist es, die den Nachmittagen, den Wochenenden und vor allem den Ferien Richtung und Sinn gibt. Er vergilt es ihr, indem er in jeder freien Minute ihre »Kluft« trägt und sich »auf Fahrt« wähnt. Dazu muss er sich, wenn er nach dem Unterricht ins Freie flieht, nur vorstellen, der Weserstrand, die Felder um das Schönebecker Schloss und die Blocklandwiesen lägen außerhalb Bremens. Am Wochenende aber braucht es keine Tagträume, da zieht er mit seinen Kameraden hinaus ins Teufelsmoor oder in die Lüneburger Heide und in den Ferien sogar bis nach Dänemark.
Das gemeinschaftliche Leben in der Natur ist ein Gegenentwurf zum geregelten Alltagsleben, wo alles seinen Zweck, seine Zeit und seinen Platz hat. Beim bündischen Wandern, dem sich auch die Pfadfinder verschrieben haben, sind Himmelsrichtung und Spontaneität wichtiger als Plan und Ziel. »Auf eigene Faust« heißt die Zauberformel, nach der man vielleicht nicht gerade schnell, aber immer um einige Erfahrungen reicher ankommt. Man singt, was einer gerade anstimmt, kocht, was die Bauern geben oder der Boden sich nehmen lässt, schlägt die Zelte auf, wenn es dunkel wird oder wo sich eine schöne Stelle findet. Die Gespräche am Lagerfeuer drehen sich um große Dinge wie den Sinn des Lebens oder die Aufgaben der Gegenwart, es ist viel von »Selbsterziehung«,»Freiheit«, »Gemeinschaft« und »Verantwortung« die Rede, doch das sind Wörter mehr beschwörenden als klärenden Charakters. Und wenn wirklich mal diskutiert wird, geht es meist um die eigene Sache: Worin unterscheidet man selbst sich von Kindern und Erwachsenen? Ist die Jugend eine Phase oder eine Existenzform? Wie stehen die Pfadfinder zum Wandervogel? Und zur Idee eines Einheitsbundes? Dürfen Mädchen aufgenommen werden oder sollen die ihre eigenen Bünde gründen?
Wo war Friedrichs Platz in der Vielfalt der Bünde? Natürlich an der Seite seines Vaters. Zwar war der selbst kein Pfadfinder gewesen, aber aus seiner Sympathie für die englischen und amerikanischen Boy Scouts hatte er nie einen Hehl gemacht. Man kann das ausführlich in seinem Büchlein zur Wehrerziehung nachlesen, und es ist kaum vorstellbar, dass Friedrich das nicht getan hat. Generell befürwortet Heinrich Leo jegliche Art jugendlichen Wanderns, Streifens und Kämpfens. Dass sich die Wandervogelidee nach dem Krieg zu einer echten Bewegung ausweitete, hätte er vorbehaltlos begrüßt. Der schwärmerischen Attitüde wäre er aber reserviert begegnet. Egal, in welcher Form sich die Jugend der Natur zuwendet, sie soll dabei etwas lernen, und zwar zum Nutzen der Nation.
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