Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
ganzen Fahrt über den Feldweg das Lenkrad hatte halten dürfen. Aber heute war kein normaler Montag. Heute rang M42 mit dem achten Gebot.
Sollte er lügen? Täte er es, wäre er sein reines Gewissen los, eines der wenigen Besitztümer, das ihn über die frechen Mitschüler erhob. Täte er es aber nicht, dann würde er nicht nur die Wahrheit über sein Wochenende aussprechen, sondern auch über sich und die anderen. Und die hieß nun mal, dass er keiner von ihnen war. Er fürchtete diese Wahrheit, und was waren seine guten Noten, die Ergebenheit gegen alle Gebote der Lehrerin, seine Überangepasstheit, sein zwanghafter Perfektionismus anderes als verzweifelte Versuche, sie wenn schon nicht zu leugnen, so doch zu seinem Vorteil auszulegen? Aber hatte er denn überhaupt eine Wahl? Er wusste ja nur deshalb so genau, was passieren würde, weil er es im letzten Jahr schon erfahren hatte. Wenn er heute log, würde es ihm sowieso niemand glauben. Vermutlich waren die anderen schon voller Schadenfreude, weil sie wussten, dass M42, der kleine Streber mit der Riesenlücke zwischen den beiden oberen Schneidezähnen, sich gleich lächerlich machen würde. Und wenn er es einfach verschwieg? Dann würden sie es erzählen. Dann würden sie mit dem Finger auf ihn zeigen und es hinausbrüllen. Oder noch gemeiner, sie würden ihn mit Unschuldsmiene fragen, wie viele Kerzen die Familie Leo denn dieses Mal angezündet habe. Etwa schonwieder vier? Hatte den Hinterwäldlern denn immer noch niemand erklärt, wie Advent ging? Vier Kerzen am ersten Advent! Was waren M42s richtige Antworten beim Rechnen, der wie am Schnürchen runtergeratterte Dekalog, die Eins in Betragen wert, wenn er nicht mal Adventskranz konnte? Mochten sie auch etwas schwerfällig im Kopf sein, so hatten sie doch ein deutliches Gespür dafür, dass alles Wissen nichts taugt, wenn man sich in der Wirklichkeit nicht auskennt. Und hier ging es ja nicht um komplizierte Dinge wie Melken, Mähdreschen oder Heuernte, sondern um die pipieinfachste Regel auf der Welt. Junge, Junge – erst eins. Dann zwei, Mann. Dann drei, Alter. Und dann vier: aus die Maus, Halleluja. Kapiert?
M42 begriff, dass es gar kein moralisches Problem gab. Es führte ja kein Weg an der Wahrheit vorbei. Die Frage, die er nun wälzte, war deshalb eher theoretischer Natur. War es besser, sehenden Auges ins Verderben zu rennen wie heute oder aus heiterem Himmel von ihm überrascht zu werden wie im letzten Jahr? Mit kaum erträglicher Scham erinnerte er sich daran, wie die Lehrerin ihn damals als Ersten drangenommen und nach seiner Antwort zwar nicht in den Lachorkan eingestimmt hatte, aber doch merklich amüsiert gewesen war. Das habe sie wirklich noch nie gehört, und ob er denn wisse, warum sich der Brauch seiner Familie so sehr vom allgemein üblichen unterscheide. Er wusste es nicht, und das erst machte seine Verlorenheit vollkommen. Immerhin hatte er inzwischen gefragt, also war es ihm erklärt worden. Er würde nicht lügen müssen. Aber einen ganzen Schultag lang würde er nur der bescheuerte Sohn seines bescheuerten Vaters sein.
Das andere Problem, das die Nazis in der Weihnachtszeit hatten, waren die Lieder. Denn obwohl sie fast alle von einem Judenkindlein handelten, das geboren wurde, um die Welt zu beherrschen, steckten diese Lieder ja tief drin in den Deutschen und wollten jedes Jahr aufs Neue wieder raus aus ihnen. Ganz allein mit »O Tannenbaum« und »Morgen kommt der Weihnachtsmann« ließ sich eben doch kein Staat machen. Darum duldete man das alte Liedgut, dessen Erhabenheit jeden ergriff, und hoffte, dass das neue allmählich an Boden gewinnen würde. Durchaus nicht ohne Erfolg.
Es ist für uns eine Zeit angekommen,
die bringt uns eine große Freud.
Übers schneebeglänzte Feld, wandern wir, wandern wir,
durch die weite, weiße Welt.
Es schlafen Bächlein und See unterm Eise,
es träumt der Wald einen tiefen Traum.
Durch den Schnee, der leise fällt, wandern wir, wandern wir,
durch die weite, weiße Welt.
So habe ich das Lied um 1978 kennen, auf der Flöte begleiten und dabei lieben gelernt. So steht es in dem Büchlein, das Heinrich Himmler den Familien seiner Männer zum Julfest 1944 überreichen ließ. So stand es aber nicht in der Sammlung Schweizerischer Volkslieder, die Otto von Greyerz 1912 herausgegeben hatte. Erst 1939 hatte nämlich Paul Hermann dem Lied den heute geläufigen Text angedichtet. Davor lautete er, je nachdem in welchem Kanton man es hörte, mehr oder
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