Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
weniger so:
Es ist für uns eine Zeit angekommen,
es ist für uns eine große Gnad’.
Denn es ist ein Kind geboren,
und das der höchste König war,
unser Heiland Jesus Christ, der für uns, der für uns,
der für uns Mensch geworden ist.
Auch Himmlers Festgabe überlebte die Auslese im Keller meiner Oma.
Fast die Hälfte der dort untergebrachten Umzugskartons war gefüllt mit dem »politischen« Schrifttum, das ich bei meinem letzten Besuch im Haus der Großeltern sichergestellt hatte. Doch als ich die Bände dann Stück für Stück in die Hand nahm, um zu entscheiden, für welche ich einen Platz in meinem Bücherschrank freizumachen bereit war, blieb schließlich nicht mehr als eine Handvoll übrig. Bei dem Geschenk aus dem SS-Hauptamt musste ich zwar etwas länger überlegen als bei der LGB, aber am Ende bestand gar kein Zweifel, dass es bewahrt zu werden verdiente. Warum? Weil es eine Nähe der SS-Welt zu meiner eigenen Welt herstellte.
Was ich dagegen kistenweise dem Altpapier übergab, das waren all die öligen Folianten, die von Blutswerten und Ahnenschicksal schwafelten, die nichts enthielten als die Sentimentalität und das Ressentiment der Wohlanständigkeit, die ihren Bedeutungswillen mit sich herumschleppten wie Himmler seine Wolke aus esoterischem Geschwätz, Darmschwäche und Kölnisch Wasser. Sicher hatte Großvater das Gewicht dieser Schinken zu spüren gemeint, aber nüchtern betrachtet war ihr Schwindel erschreckend offensichtlich. Sie waren plump wie ein Stück Seife. Aber das Weihnachtsbüchleinwar anders. Es gab sich so geschickt biedermeierlich, dass man es in seiner Mischung aus kleinen Texten, Holzstichen und Liedern zunächst für einen Verwandten von Ludwig Richters Hausschatz halten konnte.
Man musste schon genauer hinsehen, um neben den stimmungsvollen Winterbildern, einer Auswahl aus Grimms Märchen, zahllosen Gedichten und Notensätzen etwa den Weihnachtsbrief zu bemerken, den angeblich 1939 ein deutscher Soldat an seinen kleinen Sohn geschrieben hatte. Seine Botschaft schien 1944 nichts von ihrer Gültigkeit verloren zu haben. In aller Kürze hieß sie: Krieg sei auf Erden, und die Menschen mögen fallen. Etwas ausführlicher las sich das so: Und siehst Du, mein liebes Eberlein, da sind nun die Soldaten nur dazu da, daß die frechen und bösen Leute, die ganz weit weg wohnen, nicht zu Dir kommen können, und nicht zur Mutti und nicht zum Weihnachtsbaum, überhaupt nicht zu allen lieben Leuten. Das sind ganz viele Soldaten, so viel, daß Du Dir das gar nicht denken kannst. Die stellen sich an jede Straße hin, wo die Bösen vielleicht kommen könnten, und passen auf, ob einer anschleicht. Und wenn so einer angeschlichen kommt – was denkst Du wohl, was dann die Soldaten machen? Sie nehmen ganz, ganz leise, damit der Böse das nicht hört, ihr Gewehr, dann stecken sie eine Kugel hinein, dann legen sie das Gewehr an (die Mutti soll Dir zeigen, wie man das macht) – und dann: schießen sie! Bumm! Nochmal bumm! Es kracht ganz fürchterlich. So arg kracht es, daß der böse Feind schnell wieder davonläuft, er kommt vor lauter Bumm und lauter tüchtigen deutschen Soldaten gar nicht dazu, daß er Dir und Mutti und allen Leuten in München und Pasing was tun könnte. Manchmal wird er dabei auch totgeschossen. So fest wird da hinaufgeschossen bei dem gewaltigen Bumm, daß er hinfällt und gar nicht mehr aufstehen kann. Und dann kann er überhaupt nicht mehr nach München und Pasing laufen und die braven Leute hauen. SiehstDu, das machen die Soldaten. Und deshalb haben alle Leute die Soldaten gern. Man muss befürchten, dass dem armen Kind in einem ähnlich debilen Tonfall auch erklärt worden war, wie der Papamann und die Mamafrau das kleine Eberlein gemacht hatten. (Lass dir das von der Mutti zeigen – krachbumm.) Der Weihnachtsbrief jedenfalls mündete, wie sollte es anders sein, in einen Lobpreis des höchsten Wesens: Weißt Du auch, wer am allermeisten aufpaßt, daß die Polen und Engländer Dir und der Mutti nichts tun können? Der Hitlerführer! Das ist ein so lieber und tüchtiger Mann, daß er Tag und Nacht nur daran denkt: was muß ich tun, daß dem Eber und der Mutti und allen lieben deutschen Menschen nichts geschieht. Der hat uns alle so lieb, das kannst Du Dir gar nicht denken, wie. Der Hitlerführer ist noch viel lieber als der Weihnachtsmann. Von Behauptungen wie dieser vollends aus seiner Gefühligkeit gerissen, merkt man plötzlich, dass das Büchlein voll von
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