Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Widersacher der Seele, das monumentale Opus magnum; es war nicht die Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, die Urfassung der Symboltheorie; es waren auch nicht die nachgelassenen Fragmente Alfred Schulers, die Klages 1940 herausgegeben und mit einer wahnwitzigen Verschwörungstheorie eingeleitet hatte, seine einzige Publikation mit offen antisemitischer Tendenz. Hätte mich damals wohl die Abgehobenheit der ersten beiden Texte abgeschreckt, so die Gehässigkeit des dritten. Und vermutlich hätte Klages in allen drei Fällen die Auslese nicht überstanden. Das Buch, das mir in die Hände fiel und mich sofort reizte, war dagegen ein Stück reiner Gebrauchsprosa: ein Lehrbuch mit dem Titel Handschrift und Charakter. Wer darin herumblättert, findet nichts Funkelndes, kaum sprachliche Prägnanz, keine Große-Denker-Gesten. Nur eine Aneinanderreihung staubiger Wissenspartikel, zahllose Schriftproben und Merkmalstabellen, Begriffe wie Formniveau, Fadenbindung und Deutungsverfahren, sperrige Sätze wie diesen: Die Doppeldeutigkeit, die wir bisher für zwei Schrifteigenschaften, für Ebenmaß und Regelmäßigkeit, erwiesen haben, kehrt nun bei jeder Schrifteigenschaft wieder, ja bei jeder Eigenschaft des Ausdrucks überhaupt, und weist auf einen Sachverhalt von allergrößter Allgemeinheit zurück.
Was konnte daran faszinieren? Zunächst nichts als der Gegenstand selbst. Es war die menschliche Handschrift, die mich anzog. Und ich vermute, nicht nur mich. Jeder Schreibende geht ja ein eigenartiges Verhältnis zu sich selbst ein. Wie die Schrift ein Zwischending ist oder ein Doppelding, zugleich körperlich und geistig, so ist es auch die Tätigkeit desSchreibens. Die Verbalform suggeriert eine falsche Eindeutigkeit. Wer schreibt, handelt nicht einfach. Vielmehr geschieht etwas mit ihm, während er etwas tut. Der Schreiber ist immer aktiv und passiv zugleich. Mag das Geschriebene hundertmal einem anderen gelten, es gilt immer auch und zuallererst ihm selbst. Noch während die Hand im Schreibakt etwas gibt, nimmt das Auge es wieder auf. Zeigen und Schauen sind beim Schreibakt nicht zu unterscheiden.
Lange bevor ein Kind anfängt, in fremden Schriftbildern einen Sinn zu erkennen, hat es das sich selbst zuschauende Zeigen tausendfach am eigenen Leib erfahren: im Gekritzel, das Schrift und Bild noch amorph zusammenhält; in den unsicheren Gemälden, die immer auch sprechen wollen, in denen sich darum bald Buchstaben und Namen unter die Ikonen von Sonne, Haus und Schiff mischen; schließlich auch in der richtigen Schrift, die nie zum reinen Bedeutungsträger wird, sondern auch weiterhin Bild bleibt, gelobt oder getadelt, geschätzt oder missachtet für ihre Gestalt. Einmal mit dem Auge verwachsen, lässt sich die Empfänglichkeit für Schriftgestalten nie wieder ablegen. Nicht nur der junge Schreiber selbst, auch jeder andere hat für ihn ab jetzt eine Schrift, ja er ist Schrift, denn sie gehört so untrennbar zu ihm wie seine Stimme und sein Gesicht. Und auch wenn sie längst nicht alles verrät, so kann man sich ihrer Macht doch kaum entziehen. Für den Schüler, der mühsam lernt, die Buchstaben nach Vorschrift zu verbinden, ist die kaum leserliche, doch in ihrem schnellen Flug so sichere Handschrift der Eltern ein Hoheitszeichen. Die seiner Klassenkameraden ist für den Heranwachsenden ein körperliches Faktum, das ihn ebenso anzuziehen oder zu irritieren vermag wie lockiges Haar, ein verwachsener Fingernagel oder das erste Paar Röhrenjeans.Und wie mächtig erst ist sie für den Jugendlichen, der erleben muss, dass der Anblick einer blumigen Mädchenschrift den Zauber eines zweisamen Gesprächs für immer vertreiben kann, während er bei einer anderen fühlt, dass die frühreife Eigenart ihrer Schreibbewegung ein Geheimnis birgt, das seinem Begehren, genau wie ein gleitender Tanzschritt, über das Stocken der Rede, die Scheu der Blicke oder die noch unentwickelten Reize des Körpers spielend hinweghilft. Ob das heute noch immer so ist? Schließlich fiel meine Jugend zusammen mit dem Ende einer monumentalen Kulturepoche.
Neben Petrarca, Mozart, Gneisenau, Goya, Heine, Droste-Hülshoff, Lenin, Rathenau, George, Himmler, Picasso, Friedrich und Martin stehen wir am einen Ufer, unsere Kinder stehen am anderen. Wir? – Die letzten Briefschreiber.
Mochten sie auch nichts anderes enthalten als Erinnerungen an gemeinsame Ferienerlebnisse, verlegene Referate über den aktuellen Schulstoff oder Ausblicke auf den nächsten
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