Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
gedanklich in Teilgebiete zerstückelt oder auf Ideen reduziert, der verfehlt ihr Wesen. Wie aber kann der Mensch in seiner Begrenztheit sie denn sonst begreifen? Indem er aufmerksam wartet, bis ihm die Natur zum Erlebnis wird. Denn im Erleben gewahrt man Zusammenhänge. Etwa sei es ein Irrtum zu meinen, die einzelnen Farben gebe es für sich. Sie existieren nicht wie isolierte Punkte. Vielmehr sindsie Symbole, die ohne Anfang und Ende aufeinander verweisen. Darum lässt sich ihre Gesamtheit zu einem Kreis ordnen. Auf einen Blick in eine gelbe Lichtquelle etwa folgt auf der Netzhaut immer ein violettes Nachbild. Violett und Gelb »fordern« sich, folgert Goethe, weil sie in einer notwendigen Beziehung des polaren Gegensatzes stehen. Also müssen sie einander im Farbkreis gegenüberstehen. Treten sie aber gemeinsam auf, das lehren andere Farberlebnisse, dann »steigert« sich ihr Gegensatz zum Smaragdgrün nach der gelben, zum Purpurrot nach der violetten Seite hin. Füllt man nun noch die Leerstelle zwischen Grün und Violett durch Blau, die zwischen Gelb und Rot durch Orange, ist der Kreis geschlossen. Jede Farbe ist nun durch Beziehungen von Nähe und Ferne, Gegensatz und Ergänzung, Steigerung und Mischung beschreibbar.
Die zum Kreis vereinte Totalität der Farben nennt Goethe Harmonie – eine Ordnung, in der sich das Wesen der Natur offenbart: abgeschlossen und vollendet und doch gebunden an die Besonderheit des Auges. Denn jeder Sinn erlebt die Natur auf seine Weise: Man schließe das Auge, man öffne, man schärfe das Ohr, und vom leisesten Hauch bis zum wildesten Geräusch, vom einfachsten Klang bis zur höchsten Zusammenstimmung, von dem heftigsten leidenschaftlichen Schrei bis zum sanftesten Worte der Vernunft ist es nur die Natur, die spricht, ihr Dasein, ihre Kraft, ihr Leben und ihre Verhältnisse offenbart, so daß ein Blinder, dem das unendlich Sichtbare versagt ist, im Hörbaren ein unendlich Lebendiges fassen kann. Ist aber jeder Sinn für sich ein Organ fürs Unendliche, dann müssen ihre Wahrnehmungen auch untereinander in einem notwendigen Verhältnis stehen. Und die Erfahrung lehrt, dass es genauso ist. Dass sich in einer Sinneswahrnehmung eine andere zeigen kommen kann. Für Goetheist das so selbstverständlich, dass er es hier und da einfach hinschreibt, oft mit lyrischer Lakonie. Die Sonne »tönt« eben, das weiß man doch von alters her.
Es ist genau diese Ähnlichkeit eines Phänomens mit einem anderen, die der Begriff des Ausdrucks bezeichnet. Eine Erscheinung erinnert an eine andere, ohne dass man das sachlich oder gar kausal erklären könnte. Es war also eine im besten Sinne goetheanische Einsicht, die Klages erkennen ließ, dass die Graphologie es mit einer Ausdrucksbeziehung zu tun hat. In der Handschrift zeigt sich ein Charakter. Und warum? Weil der Charakter einer Schrift dem Charakter ihres Urhebers ähnlich ist. Wie aber lässt sich die Ausdrucksqualität einer Handschrift in ein diagnostisches Urteil übersetzen? Es war ein im besten Sinne romantischer Einfall, durch den Klages das Grundproblem der Graphologie zumindest theoretisch löste. Alle Fäden, so behauptete er, kommen in der alltäglichen Sprache zusammen. Sind nicht Redewendungen, Sprichwörter und selbst reine Bezeichnungen ein Archiv natürlicher Synästhesien? Ganz selbstverständlich ziehen wir schließlich die Sphäre des einen Sinns zur Charakterisierung des anderen heran. Dur und Moll, hart und weich: Es sind zwei Tastempfindungen, mit denen wir den Grundcharakter eines Musikstücks bezeichnen. Genauso wie wir eine Farbe warm nennen. Einen Geruch stechend. Ein Geräusch hell. Ebenso bezeichnen wir die Regungen des Gefühls durch das Vokabular der mit ihnen verbundenen Körperbewegungen – und ist nicht das Schriftbild das Resultat der Handbewegung? Wir sind jemandem zugeneigt. Man öffnet sich füreinander. Der eine rast vor Wut, der andere hüpft vor Freude. Wer aber empfindlich ist für die Bewegungsbilder einer Handschrift, so Klages, der wird gar nicht anders können, als in ihnen denCharakter des Schreibers zu erleben. Die Buchstaben des einen perlen frei und ungezwungen wie Champagner, die des anderen kratzen uns in ihrer zackigen Schärfe wie ungeschnittene Fingernägel, der eine Schreiber scheint sich an seinem Füller festzukrallen, der andere mit ihm zu tanzen, dieses »m« ist verschlossen wie ein Kellergewölbe, jenes offen wie eine Girlande, die eine Schrift erinnert an ein Traumbild, die andere
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