Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Besuch im Weserstadion: Wenn mein Freund Sven Waas und ich etwa alle zwei Wochen zwischen Bremen und München Briefe tauschten, was taten wir dann anderes, als das Spiel zu wiederholen, das schon Reuchlin und Melanchthon, Friedrich und Voltaire, Goethe und Zelter zwischen Wittenberg und Ingolstadt, Paris und Potsdam, Weimar und Berlin getrieben hatten? Wir ersetzten das Dauergespräch durch den Austausch mehr oder weniger spärlicher Notizen, und wir begnügten uns, da wir das Lachen des anderen nicht hören, die Spannung seiner Muskeln nicht sehen und den frühen Bart nicht fühlen konnten, mit dem Anblick seiner Schrift. Mochte im Hintergrund auch nur ein kalter Krieg geherrscht haben, in dem ein gewaltsamer Tod immer unwahrscheinlicherwurde: Als ich Ende 1989 im äußersten Nordwesten der USA saß und meine Tage danach bemaß, ob Post gekommen war, und wenn ja, wie viel und vor allem von wem – was erfüllte mich dann anderes als die Wehmut, die auch die Soldaten der Weltkriege erfasst hatte, wenn sie die Briefe ihrer Angehörigen lasen? Menschen, ohne die man sich ein Leben nicht vorstellen konnte, waren allein durch ihre Schrift anwesend, also achtete man peinlich genau auf sie. Nicht nur war ja der Körper eines anderen in ihr enthalten, nicht nur erlebte man ihn beim Lesen typische Bewegungen vollführen und idiomatische Sätze sprechen. Sie wies auch, teils in Verstärkung, teils in Kontrast zum Inhalt, auf Gleichmut oder Erregung hin, auf Gedrücktheit oder Freude; und manchmal war die Tinte verwischt: auf dem Umschlag vermutlich vom Regen, im Brief selbstverständlich von einer Träne. Und mochte es auch nur eine spontane Regung sein, die ich am liebsten unterdrückt hätte: Wenn ich mich fragte, ob der Buchstabe m, den meine erste Freundin immer mit einem ganzen Bogen zu viel schrieb, ein Ausdruck ihrer überbordenden, mich oft überfordernden Energie war, verhielt ich mich dann nicht wie ein Graphologe, der aus den Details einer Handschrift Schlüsse auf den Charakter des Schreibers zieht?
Von der Straße her ein Posthorn klingt.
Was hat es, daß es so hoch aufspringt,
Mein Herz?
Die Post bringt keinen Brief für dich:
Was drängst du denn so wunderlich,
Mein Herz?
Schon in der bloßen Faszination für den Gegenstand war also etwas vom Beruf des Graphologen enthalten. Wer eine Schriftgestalt wahrnimmt, der kann gar nicht anders, als eine verkörperte Seele zu bemerken. Er nimmt Stimmen und Stimmungen, persönliche Eigenschaften und Bewegungsarten wahr und damit immer auch Unterschiede: sei es zwischen Zuständen innerhalb einer Person, sei es zwischen den Charakteren verschiedener Personen. Und diese Unterschiede wertet er, ob er will oder nicht. Den Regungen von Zu- oder Abneigung, von Mitgefühl oder Gleichgültigkeit, von Herablassung oder Bewunderung, die man spontan beim Anblick einer Handschrift empfindet, kann man sich nicht entziehen. Wie angemessen diese Gefühle sind und ob sich einer Handschrift über sie hinaus noch weitere Informationen entlocken lassen, etwa über die Intelligenz, Sensibilität oder Willenskraft des Schreibers, ist eine ganz andere Frage. Nicht nur der Schreibakt, auch die Wahrnehmung eines Schriftbildes ist ja eine höchst zwiespältige Sache. In ihr mischen sich Empfindsamkeit und Selbsterhebung. Wer die subtilen Unterschiede zwischen Schriftbildern erkennen will, muss zart fühlen können. Wer in ihnen aber nach Zeichen von Wert und Unwert sucht, der muss auch über ein robustes Gerüst von Vorurteilen verfügen. Es ist genau diese Mischung aus Ressentiment und Feinsinn, die man im Blick haben muss, wenn man das Verhältnis der deutschen Bildungsschicht zum Dritten Reich begreifen will. Und kaum etwas verkörpert diese Mischung so ideal wie Klages’ Graphologie. Sie hat eine merkwürdige Nähe zum Rassismus auf der einen Seite, zu Goethe auf der anderen. In den vielen Monaten, die ich über Klages’ Büchern und den Dokumenten seines Nachlasses verbrachte, war dieser Zwiespalt in jedem Augenblick spürbar.
Wer heute die Graphologie als Pseudowissenschaft abtut, liegt sicher nicht falsch. Auch ist erfreulich, dass kaum noch eine Firma von ihren Stellenbewerbern handgeschriebene Lebensläufe verlangt, um sie graphologisch deuten zu lassen. Wer aber nur auf die mickrige Praxis einer veralteten Methode der Persönlichkeitsdiagnostik achtet, die längst durch andere mickrige Methoden der Persönlichkeitsdiagnostik ersetzt wurde, dem entgeht etwas. Der wird zum
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