Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
gab er ihm den Namen eines psychopathologischen Syndroms, dann bezeichnete er es als Hysterie. Und mal den Namen eines Volkes. Oder meinte er eigentlich eine Religion? Oder eine Kulturidee? Jedenfalls nannte er es dann Juda.
Worin gründete das tiefe Fremdheitsgefühl gegenüber den Juden, das viele deutsche Bildungsbürger empfanden, wenn sie doch die gleichen Bücher lasen, die gleiche Musik liebten, dem gleichen Patriotismus huldigten, wenn sie getauft waren, die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen, in den gleichen Häusern wohnten und nach Körperbau und Kleidung von ihnen selbst nicht zu unterscheiden waren? Ein philosophisch belesener Zeitgenosse wie Klages antwortetedarauf unüberbietbar abstrakt. Das Sein der Juden sei in Wahrheit nur ein Schein. Nie orientierten sie sich an der eigenen Wesensart, sondern immer an der ihrer Umwelt, daher habe ihr Charakter keinen Kern, alles an ihnen sei Behauptung. In Deutschland gäben sie sich deutsch, in Frankreich französisch, in Italien italienisch. Bei ihnen sei theatralische Gebärde, was bei anderen echter Ausdruck sei. Darum verstünden sie sich auf die schmeichelnde Anpassung, darum seien sie begabte Händler, Schauspieler und Verführer. Darum seien sie gefährlich. Denn man lebe in einer Zeit, in der immer weniger Menschen verstünden, echten Ausdruck von falscher Gebärde zu unterscheiden. Körperlich ausdrücken aber könne sich nur, was mit schicksalhafter Notwendigkeit existiere. Und das sei nicht zu wählen. So wie man ein Gefühl erleide und dessen Ausdruck in Stimme, Gestik und Mienenspiel an sich geschehen lassen müsse. Der Ausdruck sei daher immer ein Zeichen von Lebendigkeit. Wo hingegen nichts lebe, da könne sich auch nichts zeigen. Da aber eine solche Leere unerträglich sei, werde sie durch die umso lautere Behauptung von Fülle überspielt. Was nun drückt sich im eigenen Wesen aus? Was besitzen »wir« tatsächlich, dessen Besitz die Juden nur behaupten? Die Regsamkeit des Seelenlebens, sagt Klages, die Gefühlstiefe, die treue Einfalt, die Kraft zu künstlerischer Gestaltung, die Neigung zum zwecklosen Schweifen, die lebendige Erinnerung der Volkskultur, mit einem urdeutschen Wort: es sei das Gemüt, worum die Juden »uns« beneideten (worum er einen ganz bestimmten Juden beneidete, mit dem er lange befreundet gewesen war, sagte er natürlich nicht).
Wäre das jedoch alles gewesen, was Klages zu sagen hatte, dann müsste man sich heute nicht mehr mit ihm beschäftigen.Antisemiten, die in der Lage waren, ihrem Ressentiment einen subtilen Schliff zu geben, gab es in Deutschland zuhauf. Tatsächlich aber war in seinem Werk nur an wenigen Stellen ausdrücklich vom jüdischen Wesen die Rede. Wer es nicht wollte, der brauchte diese Obsession gar nicht zu bemerken. Unter Klages’ Lesern und Freunden waren auch Juden, und seine Judenfeindschaft konnte unter gebildeten Zeitgenossen verfangen, weil er sie nicht so nannte. Weil seine Psychologie des Judentums Teil einer ausgreifenden Argumentation war, die über jegliches Spezialproblem weit hinausging: einer Argumentation von ebenso welthistorischem Ausmaß wie großer theoretischer Kraft. Gegen »die Juden« zu schreiben, wäre für einen Denker wie Klages unter Niveau gewesen. Wem er mit Leidenschaft zu begegnen suchte, das war ein metaphysisches Prinzip namens »Geist«, dessen Macht, so die These, im Laufe der abendländischen Geschichte immer größer geworden sei, und zwar auf Kosten des gegenteiligen Prinzips, das er »Seele« nannte. Was klingt wie die übliche Nörgelei der Zeitkritik, war für Klages tatsächlich ein philosophischer Großkonflikt, zu dessen gedanklicher Bewältigung er mehr als tausend Seiten benötigte. Man könnte auch sagen: Er machte ernst mit der Nörgelei.
Klages’ Kulturpessimismus war eingebettet in eine gewaltige Forschungsanstrengung. In eine Vielzahl subtiler Beobachtungen. In eine universale Verfallsgeschichte. Und in eine radikale Erkenntnistheorie. Es würde zu weit führen, die Dimensionen dieses Werks hier auch nur anzudeuten. Aber von dem großen Reiz, den es von der ersten Begegnung an auf mich ausübte, kann ich nicht schweigen. Dabei war es einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass es sich mir von seiner unscheinbarsten Seite zeigte. Der Band aus Klages’ gesammeltenSchriften, der mir aus Großvaters geheimem Bücherschrank entgegenfiel und dessen Begutachtung länger dauerte als die des gesamten restlichen Materials, war nicht Der Geist als
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