Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Beispiel nicht verstehen, warum Klages’ Graphologie ein Teil der deutschen Geistesgeschichte ist. Der muss als Schrulle belächeln, dass Köpfe wie Karl Jaspers, Martin Heidegger, Walter Benjamin, Gottfried Benn, Ernst Jünger, Heinrich Wölfflin und Karl Mannheim sich sehr für sie interessierten. Wer sich aber die Mühe macht, Ludwig Klages’ Entwurf einer Graphologie nachzuvollziehen, der wird das verstehen. Er wird nämlich nicht anders können, als die Tiefe des Problembewusstseins, die Eleganz der Lösung und die Angemessenheit der Methode zu bewundern. Und selbst wenn kein einziger Satz der Überprüfung standhielte, müsste das die Bewunderung nicht schmälern. Eine gute Theorie kann ja durchaus irren. Aber weil sie ein Gefüge ist, das nur hält, wenn ein Gedanke den anderen trägt, ist eine gute Theorie immer schön. Allerdings ist der Genuss des Theoretischen nicht leicht zu haben. Er erfordert Zeit. Wenn es sich zudem um eine widerlegte oder nutzlos gewordene Theorie handelt, ist ihr Studium sogar reiner Luxus. Es ist ein Privileg des Historikers, für solche Genüsse bezahlt zu werden.
Wie jeder gute Wissenschaftler besaß Klages die Kraft und den Mut, im Kleinen das Große zu erkennen. Wenn er die ersten zehn Jahren seines Forscherlebens fast ausschließlich der menschlichen Handschrift widmete, dann wies ihn das genausowenig als Fachidioten aus wie Galileo Galilei, wenn er immer und immer wieder Murmeln rollen ließ, oder Gregor Mendel, wenn er Frühling für Frühling Erbsen sortierte. Zugleich unterschied sich Klages von ihnen, weil die Nachwelt darin einig ist, dass er irrte. Doch selbst dieses Verdikt enthält einen Fingerzeig auf seine Leistung.
Klages betrieb goetheanische Wissenschaft. Und auch Goethe irrte ja gewaltig, als er Newtons Optik seine Farbenlehre entgegensetzte. Zugleich irrte er groß, weil der Irrtum nicht auf einem Denkfehler, auf Ungenauigkeit oder auf Schwachsinn beruhte, sondern auf Radikalität. Goethe widersprach Newton nicht, weil er mit einem seiner Befunde nicht einverstanden gewesen wäre. Er setzte sich auch nicht einfach über ein spezielles Thema der Physik mit ihm auseinander. Nein, er lehnte ihn rundweg ab. Alles an ihm, die ganze Art seiner Naturforschung. Und er knöpfte sich den Teil vor, an dem er den Gegensatz zur Polemik steigern konnte. Was ist die Natur – Prinzip oder Mannigfaltigkeit? Gesetz oder Ordnung? Newton sagte gut abendländisch: Die Vielfalt der Erscheinungen ist Illusion. Alles, was ewig und wahr ist, muss einfach sein wie eine Zahl. Kraft ist beschleunigte Masse. Wo immer etwas in Bewegung scheint, ist da tatsächlich nichts als Masse, Distanz und Zeit. Als solche unmerklich für die Sinne, aber arithmetisch begreifbar. Und Licht, sagte Newton, ist ein Strahlenbündel. Wo immer eine Farbe erscheint, ist da tatsächlich nichts als weißes Licht und ein massiver Widerstand. Unmerklich für die Sinne, aber geometrisch darstellbar.
Aber was soll das denn für eine Wissenschaft sein, fragte Goethe, die dem Auge misstraut? Die einer Erscheinung erst glaubt, wenn sie auf dem Papier zum Zeichen erstarrt ist? Diealles, was anmutig ist, Gestalten, Farben und Bewegungen, zum Schein erklärt? Die das Sein der Natur zu einer Sache der Mathematik macht? Eine Herabwürdigung der Natur ist das und eine Beschädigung des Menschen. Wer die Natur auf etwas zurückführen will, das sie nicht selbst ist, der irrt schon im Ansatz. Und sie selbst kann die Natur nur für den Menschen sein. Sonst ist sie nichts. Das meint Goethe, wenn er sagt, in den Farben offenbare sich die Natur dem Sinn des Auges. Da aber nur Gleiches von Gleichem erkannt werden könne, müsse im Auge selbst ein Licht ruhen, das bei der mindesten Veranlassung von innen oder außen erregt werde. Dunkle Sätze sind das. Dass Auge und Licht sich nicht wie Subjekt und Objekt, sondern wie Gleiches und Gleiches zueinander verhalten, erscheint uns am Rande des Irrsinns fremd. Wir sind eben treue Kinder Newtons. Dabei trieb Goethe eine Frage um, die zu ihrer Zeit so zwingend war, dass sie eine ganze Nationalkultur prägte.
Wie kann ein Endliches sich ins Verhältnis zum Unendlichen setzen?
Schleiermacher fand eine Antwort und nannte sie: Religion. Humboldt eine andere und nannte sie: Bildung. Hegel eine dritte: Geist. Und wie lautete Goethes Antwort? Wollte man auch hier nur ein einziges Wort bemühen, es hieße: Erleben. Die Natur ist eins, und sie ist unendliche Mannigfaltigkeit. Wer sie
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