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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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Tor,
    mit seinem Schimmel, so steht er davor.
    Leg’ ich dem Schimmelchen Heu vor das Haus,
    packt gleich der Ruprecht den großen Sack aus.
    Pfeffernüß, Äpfelchen, Mandeln, Korinth,
    alles das schenkt er dem guten Kind.

9. KAPITEL
WENN DAS DER GOETHE WÜSSTE!
    Ich hatte angekündigt, von den Büchern meines Großvaters zu erzählen. Plural. Von einem war ja schon die Rede. Fehlt also noch mindestens eines.
    Was musste passieren, damit einem der Bücher, die hinter dem blauweißen Vorhang vor der Bundesrepublik versteckt worden waren, der Gang in die Müllverbrennungsanlage erspart blieb? Nichts Besonderes, es musste mich nur faszinieren. Ganz plump faszinieren, spontan und intuitiv. Was mich nach ein oder zwei flüchtigen Blicken nicht anmachte, wanderte in die Todeskiste. Tschüs, Walther Darré. Tschüs, Arno Breker. Tschüs, Hans F. K. Günther. Insgesamt schafften es vielleicht fünfzehn Bände, sich in meinen Koffer zu retten. In einigen habe ich später tatsächlich hin und wieder herumgeblättert. Bei anderen fragte ich mich, ob ich nicht zu milde gewesen war. Eines von ihnen aber sollte mich lange begleiten. Nicht weil ich es schätzen gelernt hätte. Nein, auch dieses Buch faszinierte mich bloß. Aber das tat es auf eine Weise, die mir Anerkennung abverlangte. Und Mühe. Letztlich ließ es sich aber genau wie alle anderen durchschauen, so dass kein Grund bestand, es je wieder in die Hand zu nehmen. Doch auch dieser Prozess verlangte mir etwas ab, eine Doktorarbeit und sechs Jahre Lebenszeit. Erst danach konnte ich auch sagen: Tschüs, Ludwig Klages.
    Klages war kein Nazi, aber viele Nazis verehrten ihn. Das allein wäre nicht der Rede wert. Die Nazis gaben ja auch vor, Hölderlin zu lieben, obwohl es keiner großen Phantasie bedarf, ihn beim Anhören einer Hitlerrede tot umfallen zu sehen. Doch Klages’ Fall lag komplizierter. Er war ein Zeitgenosse Hitlers. Er war ein Judenfeind. Er hätte, anders als Hölderlin, gegen das Dritte Reich Einspruch erheben können oder wenigstens schweigen, statt im Freundeskreis zu behaupten, sein Werk bilde das »metaphysische Fundament« des Nationalsozialismus. Er hätte seine guten Kontakte zur Berliner Polizei und zur Reichsschrifttumskammer nicht ausspielen müssen, um Berufs- und Publikationsverbote für unliebsame Konkurrenten zu erwirken. Vor allem aber half Klages, ohne je offen für sie Partei genommen zu haben, die Macht der Nazis in der deutschen Bildungsschicht zu festigen. Denn er gehörte zu den Meisterdenkern, die zwischen den Kriegen tatsächlich viel gelesen wurden. Und worüber dachte er nach? Über ein Problem, an dem sich schon Aristoteles, Schopenhauer und Nietzsche den Kopf zerbrochen hatten. Ein Problem, das viele Deutsche im frühen 20. Jahrhundert auf eine geradezu hysterische Weise umtrieb. Ein Problem, das seine plumpeste Lösung im Rassismus gefunden hatte.
    Klages wollte wissen, wie sich Menschen nach Art und Wert unterscheiden lassen. Die Frage ist unvermeidlich. Denn die eine Person ist für die andere ja immer beides: Artgenosse und zugleich befremdlich anders. Ich Tarzan, du Jane. Und sie ist vertrackt, weil es unüberschaubar viele Antworten gibt, von denen jede praktische Folgen hat. Im äußersten Fall sogar tödliche. Wer bist du? Mann oder Frau? Weib oder Hexe? Kulturmensch oder Barbar? Bürger oder Gast? Ist dein Saft das Blut oder die Galle? Bist du normal oderkrank? Lebendig oder erstarrt? Und bist du wirklich, wer du vorgibst zu sein? Ist das gezeigte Gefühl echt? Macht schon das Bekenntnis einen Christen aus dir? Sprache und Pass schon einen Deutschen? Ist dein Wesen das eines Künstlers? Oder willst du nur deine innere Leere verbergen? Fragen wie diesen kann man mit Skepsis oder Ironie begegnen. Die deutsche Bildungsschicht nach der Jahrhundertwende aber nahm sie ernst wie kaum etwas anderes. Man muss das wissen, um zu begreifen, was es mit ihrem Antisemitismus auf sich hatte. Das gefährlichere Ressentiment gegen die Juden war ja das der Gebildeten. Es war frei vom offenen Hass der Straße und konnte auch mit Bewunderung einhergehen. Es drängte nicht zum Pogrom, nicht mal zum Boykott. Es artikulierte nur ein Unbehagen. Und es wurde gerne grundsätzlich, weil es zu wissen meinte, dass man dem eigenen Wesen nur auf die Schliche komme, wenn man das Rätsel seines Gegensatzes gelöst habe. Obwohl sein Eigenes unverkennbar eine Idee von »Deutschtum« war, nannte Klages es fast nie so. Das Andere hingegen benannte er. Mal

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