Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Flut seiner Träume verebbt war. Aber von den nächtlichen Bildern abgesehen, drang es nur ausnahmsweise nach innen, in die Tiefe, zu ihmselbst: sonntags etwa, wenn er sich in die Welt seiner Kindheit versenkte. Aber seiner Natur nach hielt Martin sich ans Sichtbare. Nichts freute ihn mehr, als wenn sich etwas an seinem Platz befand. Gerade seine privaten Aufzeichnungen belegen das. Er gestand dort ja nichts, keine verborgenen Gefühle, keine verbotenen Gedanken, keine sonstigen Geheimnisse. Er verortete und datierte nur sich selbst im Gefüge von Sein und Zeit. Ob er nun im einen Heft notierte, was er an einem bestimmten Ort zu diesem und jenem Zeitpunkt beim Blick auf die Sonne sah, oder im anderen, dass er es tat: Weil er sich selbst als ein Stück Natur begriff und diese umgekehrt als einen Ausdruck der allumfassenden Vernunft, machte das keinen Unterschied. So zeigte sich im Nebeneinander von persönlichem und astronomischem Kalendarium keine gespaltene Aufmerksamkeit, die das Innere streng vom Äußeren, das Ich vom Universum trennte, sondern ein dialektischer Pendelschwung zwischen Geist und Materie. Ob Mars-Venus-Konjunktur oder Plauderstündchen mit einem Gleichgesinnten, ob Mondfinsternis oder kindlicher Übermut, ob Sonnenstand oder Sonnenbeobachtung: All diese Ereignisse hatten insofern den gleichen objektiven Charakter, als die Wiederholung aus ihnen Elemente einer dauerhaften Ordnung machte. Denn je öfter etwas wiederkehrt, desto mehr geschieht es mit Notwendigkeit. Elemente und ihre Verbindungen aber, das weiß niemand besser als ein Chemiker, muss man nicht eigens schildern. Es gibt ja Zeichen dafür.
Einer der fast ikonischen Einträge, die Martin immer und immer wieder zur Protokollierung seines Tagesablaufs verwendete, sah tatsächlich aus wie eine chemische Formel. Er las sich BD 5 R. Was auszusprechen war als »B, D hoch fünf, R«, so viel hieß wie »Bind dampft durch die DDR«, und bedeutete:Ich habe heute spazieren gehend eine Zigarre geraucht, und wo sonst sollte ich dies getan haben als in dem Land, das ich nicht verlassen darf. Warum aber nannte er sich Bind? Nun, er kam eben aus einer Welt, die – anders als später er selbst – noch streng zwischen Drinnen und Draußen unterschieden hatte. Titel, Rang und »christlicher« Name symbolisierten in dieser Welt die Unterschiede innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, die Spitz- und Biernamen, die sich die Angehörigen der gebildeten Stände im Gymnasium, im Jugendbund, in der Burschenschaft oder auch in der Ehe gaben, dagegen die Ebenbürtigkeit innerhalb einer nach außen abgeschlossenen Gemeinschaft. Mein Großvater etwa nannte seine Frau nicht Trina, sondern Mübbal, sie ihn nicht Friedrich, sondern Klaus. Dass ich nicht weiß, wie es dazu kam, gehört dazu. Die Geschichten dieser Namen sind Eigentum der intimen Kreise, die sie hervorgebracht haben. Weil also das Geheimnis Teil ihres Wesens ist, kann hier nicht mehr verraten werden als dies: Wer Einlass zu seiner Welt hatte, der durfte Dr. Martin Leo Bind nennen.
Wenn dieser Bind sich nun selbst durchs Land dampfen sah, dann war das ein fast idyllisches Bild. Es beschwor eine souveräne Langsamkeit. Man vergisst ja oft, dass das Zeitalter des dampfbetriebenen Verkehrs nicht mit der Eisenbahn begonnen hatte, sondern mit dem Schiff. Und wenn Bind dampfte, dann war er natürlich ein Dampfer.
Einer unserer Vorfahren hatte das erste deutsche Dampfschiff gebaut.
So steht es in Martins Erinnerungen. So war es ihm, so war es meinem Vater, so war es mir und allen anderen Abkömmlingen der Weserstraße 84 immer und immer wieder erzählt worden. Doch der Inhalt dieses Satzes, der stark nachWeihrauch und ein wenig nach Bierdunst roch, ist seinem historischen Maß leider nicht ganz gewachsen. Bekanntlich wurde das Zeitalter der Dampfschifffahrt am 17. Oktober 1807 eröffnet, als die von Robert Fulton erbaute Clermont erstmals den Hudson von New York nach Albany befuhr. Und zwar nicht das Zeitalter der amerikanischen, sondern der irdischen Dampfschifffahrt. Wenn nun zehn Jahre später der Vegesacker Schiffbaumeister Johann Lange auf seiner Werft einen Seitenraddampfer baute, so war das sicherlich eine glänzende Ingenieursleistung und für den Eigner ein unternehmerisches Wagnis ersten Ranges. Ein Ereignis der Technikgeschichte war es deswegen noch lange nicht. Er hatte halt nachgebaut, was es andernorts schon gab. Außerdem ist der Satz leider falsch. Unabhängig voneinander war nämlich in
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