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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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Ferne erblicken, daß wir die Lokalfarben nicht mehr sehen und kein Licht mehr von ihrer Oberfläche auf unser Auge wirkt, so gelten sie als ein reiner finsterer Gegenstand, der nun durch die dazwischentretenden trüben Dünste blau erscheint.
    Abendröte, blaue Berge – wo erhebende Farberlebnisse in anderen Epochen Dämmerung, Pulverdampf, Wandermühen und vor allem Glück erforderten, da stellten volkseigene Betriebe die gleichen Lichtverhältnisse oft flächendeckend und tagelang am Stück zur Verfügung. Die DDR ließ den Farben nicht nur Zeit zum Kommen und Gehen, sie brachte sie auch zum Leuchten. Der Ostberliner Germanist Werner Mittenzwei hat seinen Memoiren den Titel Zwielicht gegeben – mir scheint das wahrlich ein treffendes Symbol für das Land insgesamt zu sein: das Zauberreich mit der Laborbeschriftung,die blühenden Landschaften namens Deutsche Demokratische Republik. Und nicht nur unreine Farben und Zwischentöne gediehen dort prächtig. Auch seinen Bewohnern ließ das Land ja Zeit. Und auch das war seiner Industrie zu verdanken. Schließlich hatte sie auf dem Gebiet der Konsum- und Unterhaltungsgüter so lächerlich wenig zu bieten, dass Freizeit wirklich freie Zeit bedeutete. Selbst wenn man die Stunden abzieht, die man nach der Arbeit vor Geschäften, Schaltern und Amtszimmern zubringen musste, blieb immer noch mehr als genug davon übrig. Tatsächlich war produktive Langeweile das einzige Luxusgut, das der real existierende Sozialismus in Fülle zur Verfügung stellte. Was aber anfangen mit diesem Reichtum?
    Eine Möglichkeit war das gesellschaftspolitische Engagement. Westfernsehen eine andere. Sex eine dritte. Doch was blieb, wenn man zu keiner dieser Möglichkeiten neigte, weil man vielleicht nicht die Idee des Kommunismus, aber seine fleischgewordenen Repräsentanten lächerlich fand; weil man als Mensch, der auf seine Bildung hielt, keinen Fernseher besaß; und weil man bei dem Wort »Bohème« eher an eine benachbarte Region in der CˇSSR dachte als an einen libertären Lebensstil? Lesen natürlich. Spaziergänge, wie schon gesehen. Ausführliche Gespräche. Dienst in der Kirchengemeinde. Basteln, sei es am Auto, sei es an einem platonischen Körper aus Papier. Vor allem aber war die DDR ein Paradies für alle Arten des Tagträumens und der Bewusstseinsdehnung, darunter nicht zuletzt des Abtauchens in die eigene Vergangenheit. War sie tief genug, konnte man sich ihr sogar mit dem gleichen Ernst widmen wie einem Beruf. Die Bedingungen dafür waren jedenfalls ideal. An die Sommer der Kindheit erinnert man sich nunmal am besten im Sommer,an die Kindheit als solche bei Tee und Madeleines und an eine Kindheit im spätwilhelminischen Deutschland am besten in der DDR. Allerorten lud die Konstanz im Dinglichen dazu ein, den Fluss der Zeit gemächlich stromaufwärts zu tuckern.
    Als die Mauer fiel, dampfte Bind schon lange nicht mehr. Er dämmerte seinem Tod entgegen, unverzagt und voller Hoffnung, aber ohne Anteilnahme an der Zeitenwende, die sich da in seiner unmittelbaren Umgebung vollzog. Was sollten ihn auch die Vorboten des 21. Jahrhunderts scheren, wo er kaum je im 20. angekommen war? Er war ein Kind des zerrissenen 19. Jahrhunderts, nicht des Teils, der nach der Zukunft ausgriff, sondern des anderen, der sich lustvoll in den Schacht der Vergangenheit stürzte. Er kam aus diesem Jahrhundert, weil er schon fast zwölf Jahre alt war, als es – nicht der Zahl nach, aber als Epoche – zu Ende ging. Und er konnte in ihm verweilen, weil das Schicksal ihn in ein Land verschlagen hatte, in dem die Zeit sich in gleichem Maße dehnte, wie der Raum sich verengte.
    Um 1910 hatte der Turm eine Vertikale in Martins Leben eingezogen. Die DDR befestigte und vertiefte sie. Er durfte nicht reisen. Na und? Es fehlte ihm nicht. Wenn ihm im Haus seiner Großmutter eines geschenkt worden war, dann die Einsicht in die Sphärenhaftigkeit des aufrechten Menschen, für den es keine Richtungen und keine Distanzen gibt, weil er über das Rechts und Links erhaben ist. Den es nach oben und unten und nach allen Seiten zieht, weil er allseitig werden will. Der weiß, dass man Allseitigkeit nicht durch sich selbst verlierendes Gerenne im Raum erreicht, sondern durch wohlbedachte, sanfte Bewegungen am Platz: einen Blickwechsel hier, eine Wendung des Kopfes da, zuweilen einen Drehschritt, nichts jedenfalls, was ein steifes Knochengerüst undeine beengte Lunge überfordern würde. Und durch Geduld. Wer aufmerksam ist und

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