Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Vegesack und in Berlin beschlossen worden, Dampfschiffe zu bauen, mit dem Ergebnis, dass die Prinzessin Charlotte von Preußen einige Wochen früher vom Stapel lief als die Weser . Johann Lange erfuhr davon angeblich erst viel später. Seine Nachfahren wussten es natürlich, schließlich war es mein Vater gewesen, der mir nicht nur stolz vom ersten deutschen Dampfschiff erzählt hatte, sondern auch davon, dass es genaugenommen das zweite war. Aber was sich in den Köpfen einer Familie abspielt, hat meist weniger mit den historischen Tatsachen zu tun als mit den Geschichten, die man sich über sie erzählt. Jedenfalls wird es niemanden verwundern, dass der dampfbetriebene Wasserverkehr in Binds Kopf eine große Rolle spielte. Das wiederum lag aber nicht nur an seiner Herkunft und an der Zuneigung, die er überhaupt für das Wasser und die Schifffahrt empfand. Es lag auch an dem Land, durch das er sich dampfend bewegte. Seine Zigarre war ja nicht das einzige Rohr, aus dem es da dampfte und rauchte.
Über die DDR in Verbindung mit Emissionsgasen zu sprechen, fällt mir schwer. Es fühlt sich an wie Verrat. Schließlich war der Westen voll von Leuten, die jederzeit mit genüsslicher Herablassung darüber dozieren konnten. Die DDR und der Rauch – wie eine Glocke aus Kneipenschweiß hing das Thema über den Abendbrottischen und Kaffeetafeln der alten Bundesrepublik. Mein Gott, wie ich mich für meine damaligen Mitbürger schäme! Sie meinten ja nicht nur, im Besitz der Wahrheit zu sein, wenn sie mit verdrehten Augen von der Wirkung des sauren Regens auf die »Bausubstanz« oder mit gerecktem Zeigefinger von Zweitaktern als »Drecksschleudern« sprachen, mit sarkastischer Larmoyanz zu Bedenken gaben, dass es für »die Umweltverschmutzung« an der Grenze leider keinen Schießbefehl gebe, und kopfschüttelnd bekannten, wie sehr es sie selbst deprimieren würde, in einer derart »grauen Welt« leben zu müssen. Doch noch schlimmer fand ich, dass sie als Mitgefühl und Sorge ausgaben, was in Wirklichkeit nichts als Angst und Hass war: panische Angst vorm Russen, unbändiger Hass auf den Kommunismus. Und vielleicht war es auch ein wenig Neid auf ein Leben, in dem man zwar viel warten, aber dafür nicht ständig im Kreis herumhetzen musste. Wie können die nur zwischen all den grauen Fassaden Spaziergänge machen, fragte man sich mit geheucheltem Bedauern. Die einzige Antwort hätte in einer Gegenfrage bestanden: Sag mir, zartfühlender Westbürger, der du dein ganzes Leben auf eine Souterrainwohnung in Palma de Mallorca sparst und uns zu bemitleiden vorgibst, weil wir zwei Stunden für eine großartige Schallplatte angestanden haben: Wie lange muss man eine Fassade betrachtet haben, um ihr Grau angemessen zu beschreiben?
Wenn es stimmt, dass jede versunkene Welt zu ihrem Gedächtniseine angemessene Form braucht, dann lebt die DDR heute als ein Panorama von Schwarzweißbildern. Es war ja nicht nur dem Mangel oder technischer Rückständigkeit geschuldet, dass unzählige Fotografen und die Dokumentarfilmer der DEFA sich weigerten, den Osten in Farbe zu zeigen.
Mochte das eigenhändige Entwickeln und Abziehen im Labor in vielen Fällen nichts als Manier oder ein Hobby gewesen sein – wer Dresden, Wittstock oder Ostberlin schwarzweiß aufnahm, der war vor allem ein Realist. Denn er bewies damit seinen Sinn für die ortsgebundene Bedingtheit des Schönen. Auch ich war einer dieser Selbstentwickler. Auch ich konnte nicht genug kriegen vom sogenannten Grau, das auf Fotos als hundertfaches Ineinander von Schiefer, Krume, Ruß und Milch erschien und in Wirklichkeit als ein unermesslicher Reichtum an unreinen Farben. Auch ich gehörte zu den Bundesbürgern, die sich nach Ostdeutschland sehnten. Nicht aus politischen Gründen, sondern weil die DDR auf eine ganz andere Weise als die Bundesrepublik, die ja eher ein geistig-moralischer Bewusstseinszustand war, den Namen eines Landes verdiente. Den Westen hatte man im Kopf, im Portemonnaie und im Personalausweis. Aber der Osten war ein Stück materielle Wirklichkeit. Er ließ sich mit allen Sinnen fühlen, er war zu riechen, zu schmecken, vor allem bot er unvergessliche Anblicke. Man musste nur zynisch oder naiv genug sein, allein seine Oberfläche zu betrachten. Und das Kontrasterlebnis zu suchen, das sich einstellte, indem man ihn immer wieder betrat und wieder verließ. Betrat und wieder verließ. Betrat und wieder verließ.
Wer wollte, der konnte sich daran erfreuen, dass der eine
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