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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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zerfetzt worden waren? An die Offiziersanwärter der Waffen-SS, deren Bewunderung er auf der Haut spüren konnte wie die ersten Strahlen der Frühlingssonne? Oder an die junge rheinische Bauersfrau, der er die Lockenwicklermadig gemacht hatte? Gelegenheit dazu – zur Behandlung der Lockenwicklerfrage, neben der Lippenstiftfrage und der Stöckelschuhfrage ein Kernthema seiner Erziehungsarbeit – hatte eine private Einquartierung des Rekruten Leo Anfang 1940 geboten.
    Mit dieser Episode, die er seinem Kriegstagebuch anvertraute, schließt sich der Kreis. Sie zeigt nämlich noch etwas anderes als den pädagogischen Eifer eines Edelnazis. Sie zeigt, dass es keinen Themawechsel erforderte, wenn zuerst von Rasse und dann von Handschrift, Ausdruck und Charakter die Rede war: Abends haben wir noch lange Unterhaltung mit der Quartiersfamilie über Rassefragen. Besonders mit der Tochter haben wir lange noch über Charakterwertung u. Schriftdeutung uns unterhalten. Dabei frage ich sie, warum sie als Bauerstochter sich solche modischen Locken drehe. Die Antwort ist mal wieder »weil es Mode ist«. Bei dem anschließenden Gespräch findet sie selbst, daß es recht töricht ist, sich als Bäurin so zu »maskieren« und die eigenen körperlichen Vorteile als natürlichem Lebensausdruck so zu verleugnen.
    Rasse ist Eigenart, Eigenart ist Charakter, Charakter ist Ausdruck, wo aber kein Ausdruck ist, da ist Maske, und nirgendwo lässt sich das eine vom anderen besser unterscheiden als in der Handschrift. Das vertrauliche Gespräch dient der Erinnerung an die unmaskierte Echtheit als Inbegriff deutscher Eigenart. Wir brauchen keine Maske, heißt das, weil sich Wesen und Wert an unseren Körpern von selbst zeigt. In den eigenen vier Wänden gibt sich der Rassismus also durchaus einfühlsam. Da ist er nicht sachlich kalt und unbarmherzig, er mischt sich nur ununterbrochen ein: als allumfassendes Wertungsbedürfnis, als sanfte Diktatur der Wohlanständigkeit, als Dauerappell an den Gemeinsinn, als ewige Warnung vor Unzucht, Rausch und Illusion. Erst wenndie Einmischung wirkungslos bleibt, lässt er die Hüllen seiner Geschwätzigkeit fallen. Wenn du nicht zu uns gehören willst, sagt er dann, gehörst du eben zu den anderen. Und denkt sich, warte nur, bis der Krieg für uns vorbei ist; dann fängt er für dich erst richtig an:
    Morgens starkes Schneegestöber. Wir machen formale Zugausbildung auf einem vollkommen gefrorenen Sturzacker im Schnee. Die Männer haben ziemlichen Knast auf Leutnant Winkler. Anschließend lange Ruhepause im Walde. Es sollen unanständige Witze erzählt werden. Dabei tut sich unser Kamerad Stagge wieder hervor. Stagge erzählte mir Sonntag voller Begeisterung, daß er am Sonnabend eine Frau kennengelernt habe, die verheiratet sei. Er habe sie im Walde innerhalb einer ½ Std. geschlechtlich gebrauchen können. Auf meine Frage, ob er sich dabei keine Gedanken mache u. an seine eigene Frau u. seinen Jungen denke, gab er mir zur Antwort: »Diese Frau hat mir doch gesagt, daß nichts passieren könne, weil sie ja schon schwanger sei!« Ich habe nichts mehr sagen können. Scheun sagte dazu: »Es gibt eben doch 2 Klassen von Menschen.«

10. KAPITEL
BD 5 R
    Über sein Leben führte Martin sorgfältig Buch. Tag für Tag. Ein Tagebuch wird man es trotzdem nicht nennen, was ihm da durch diese Tätigkeit entstand. Eher ein Protokoll. Schon das Format der kleinen Taschenkalender verbot jede Ausführlichkeit. Aber viel Platz schien er auch nicht zu brauchen. Ihrem Aussehen nach unterscheiden sich die Notate jedenfalls kaum von den astronomischen Daten, die er – ebenfalls täglich – in andere Hefte eintrug. Manche waren so kurz oder so eigenartig, dass nur ein Eingeweihter sie verstand. Meistens genügte ein Wort, ein Name oder eine feststehende Formulierung, um ein Ereignis zu bezeichnen. Und eine Uhrzeit natürlich. 12h55 – 13h02 Sonnenbeobachtung, hat er da etwa an einem 24. Januar mit schwarzem Kugelschreiber notiert, direkt über den in Königsblau gedruckten Worten W. I. Lenin gestorben. Ein typischer Eintrag. So typisch wie an einem Samstag: 11h05 – 13h15 Dr. Mager. Oder während eines Besuchs bei der Familie seines Sohnes: 16h24 – 16h30 B. u S. treiben Terrorismus. Für sich genommen mochten das alles Kleinigkeiten sein. Aber was wäre denn selbst das Größte ohne ein Auge, das es der Betrachtung würdigt?
    Martins Auge, sein geistiges Auge, war allgegenwärtig. Selbst im Schlaf ruhte es erst, wenn die

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