Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
schwankt sein Ton zwischen kameradschaftlichem Zuspruch und sanfter Ermahnung. Aber ach! Das mochte verfangen haben, als man noch Respekt vor ihm hatte. Als seine Worte noch Gehör fanden, weil seine Werte noch was galten. Doch jetzt? Jetzt hört niemand mehr auf ihn. Wie lange denn schon? Seit 1945 vielleicht? Nein, mit dem Dritten Reich mochte eine Welt eingestürzt sein; doch knapp zwei Jahrzehnte später geschieht etwas viel Schlimmeres. Nun beginnen auch die Fundamente zu wanken. Plötzlich erlauben sich die jungen Leute das Gleiche, was er sich als junger Mann erlaubt hat. Aber ohne moralischen Kompass! Sie denken an nichts als ihr Vergnügen, machen sich größer, als sie sind, vergessen ihre Herkunft – und lesen Günter Grass. Günter Grass! Und wie reagieren sie auf Friedrichs Orientierungshilfen? Gleichgültig! Dabei lässt er nichts unversucht. Mal fühlt er sich ein, mal mahnt, mal doziert, mal erzählt er. Doch immer der beste Freund des zu Beratenden, immer die geballte Lebenserfahrung des Soldaten, des Deutschen, des Ehemanns, des Sachbearbeiters, ja des Menschen Friedrich Leo. Schwülstig kondoliert er M42, als dessen Idol Kennedy ermordet wird. Der Schülerzeitung des örtlichen Gymnasiumsvertraut er in einem Leserbrief die schockierende Wahrheit über Die Blechtrommel an. Dem ältesten Sohn versucht er mit einer aeronautischen Metaphernkanonade die Prüfungsangst zu nehmen. Dann wieder fragt er ihn so behutsam wie suggestiv, was wohl der im Krieg gefallene Großvater zu seiner Begeisterung für Tucholsky gesagt hätte. Aber schert die Jugend das? Nö.
Kapiert er denn nicht, dass seine Zeit vorbei ist? Dass niemand seine Lebensweisheiten mehr hören will? Nein, das kapiert er nicht. Stattdessen erinnert er sich seines alten Steckenpferds, der Graphologie, und lässt über all diese jungen Menschen, die nicht ahnen, wie gefährdet sie sind, schriftpsychologische Gutachten anfertigen. Und er arbeitet sich in die Materie ein, bis er selbst als Graphologe dilettieren kann. Wenn die Jugend ihm ihr Innerstes nicht anvertrauen will, dann muss er da eben selbst ran:
282 Bremen-Vegesack, Weserstraße 84
30. XII. 62.
Liebe Frau K.!
Das Jahr soll nicht zu Ende gehen bevor ich Ihnen noch mal geschrieben habe, um Ihnen unsere besten Wünsche u. Grüße für das kommende Jahr zu übermitteln.
Ich habe im Laufe des Sommers nicht mehr geschrieben, weil ich immer noch gehofft hatte, daß Heinz-Rüdiger doch irgendwie mal wieder von sich hören lassen würde. Aber es kam kein Wort, kein Zeichen. Diese Tatsache hat mir gezeigt, daß er eine Vertrauensbasis zu mir nicht mehr für richtig hält oder sogar sich durch mich gehemmt fühlt. Heinz-Rüdiger ist jetzt so alt und »erfahren« geworden, daß er nicht mehr geführt werden will. Er wird selber seine eigenen Erfahrungen machen müssen u. entsprechendes Lehrgeldzahlen müssen. Mir tat es leid, daß ich Ihnen mit seinem Besuch hier nicht mehr habe helfen können. Mühe genug habe ich mir mit ihm gegeben. Jedoch schien er schon so in sich u. seiner dortigen Umwelt verstrickt zu sein, daß er nur das eine Bemühen kannte, mich nicht hinter seine Kulissen schauen zu lassen. Er ahnte nur nicht, daß ich alles wußte, was sein Innenleben belastete. Da ich sehr aktiv als Graphologe tätig bin, gab ich ihm einige Deutungen seiner Schrift bekannt. Seit dem Zeitpunkt wurde er mir gegenüber unsicher u. scheute sich auch nicht vor bewußtem Lügen als Selbstverteidigung. Von dem Briefwechsel zwischen Ihnen u. mir hat er von mir nie etwas erfahren u. konnte es auch nicht ahnen. Ich kann Heinz-Rüdiger aber nur dann helfen, wenn er Vertrauen zu mir hat u. mir nicht nur Mißtrauen oder sogar Mißachtung zeigt. Wenn ich aber Ihnen oder ihm in ernster Lage wirklich noch einmal helfen kann, bin ich gerne dazu bereit.
Mit besten Grüßen verbleibe ich stets Ihr Friedrich Leo
Ich habe keine Ahnung, wer die arme Frau K. und der bockige Heinz-Rüdiger waren. Vielleicht Gattin und Sohn eines gefallenen Kameraden? Das würde die familiäre Vertrautheit erklären. Jedenfalls zeigt der Brief, wie Friedrich mit Hilfe der Graphologie versuchte, den pädagogischen Neigungswinkel zu erhöhen. Ohne Erfolg, wie man sieht. Ob er wohl oft daran dachte, wie leicht es ihm früher gefallen war, die Nähe junger Menschen zu gewinnen? Erinnerte er sich noch an den Eignungsprüferkandidaten, mit dem er nach einem Lehrgang Briefe getauscht hatte, bis diese zarten Bande von einer Kalaschnikow
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