Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Teil Deutschlands ihm erlaubte, den anderen zu besuchen. Und wenn er das wachen Sinns tat, dann reiste er aus einerVolkswirtschaft, die containerweise rostfreien Stahl, geräuschlose Rasenmäher und unvermischten Alkohol bereitstellte, in eine andere, deren unheilbare Stoffwechselkrankheit ein Land voll Schorf und Narben schuf. Natürlich war der Wille zur Wirklichkeitsgestaltung überall zu spüren. Man machte ja auch kein Hehl daraus. Aber die Kräfte waren so roh und die Ausführung so ungelenk, dass alle Eingriffe in die Landschaft sich in das große Tafelbild einfügten, das die stetig fließende Zeit von ihr malte. Man sagt, das Japanische habe Wörter für die Verwandlung, die den Dingen durch die reine Dauer ihres Daseins widerfährt. Eine wundervolle Sprache muss das sein. Im Deutschen gibt es dafür ja nur abwertende Ausdrücke. Der Stein der Zeit, der alles zermahlt. Die Verwitterung, die am Putz nagt. Der Rost, der sich durch die Unterböden frisst. Kein Gespür für das Rascheln der Zeit, das aus Meeresböden Berge und Gebirgen Sandstrand macht. Ich weiß nicht, ob es im Japanischen ein Wort für Vermoosung gibt, aber bestimmt klänge es sehr poetisch. Auf Deutsch klingt es wie ein Putzbefehl. Darum denken die Franzosen auch, »kärchern« sei ein deutsches Wort. Dabei ist es seiner Natur nach nicht deutsch, sondern bundesrepublikanisch. In der DDR stellten sich Entmoosungsfragen nicht. Ob nun gewollt oder nicht, die Dinge kamen und gingen hier im Rhythmus von Wetter und Jahreszeiten, mal plump wie ein Gewitterhagel, mal ausdauernd und leise wie ein Morgenregen im April. Niemand kümmerte sich um ihr Aussehen, und genau darum war ihr Anblick schön. Wenn eine Farbe überhaupt aus dem Farbtopf kam, dann war sie nicht sehr beständig. Kaum aufgetragen, begann sie schon – als wäre sie ein Stück Natur –, ihrer Nachfolgerin Platz zu machen. So wie auf der Außenseite der Gebäude und Fahrzeuge allmählichein Gesicht entstand und in ihrem Innern ein Geruch. Die Dinge wuchsen und schrumpften, sie korrodierten und verkrusteten, bröckelten und brachen. Sie durften altern, ohne sterben zu müssen.
Wenn Bind nun durch dieses dem Untergang geweihte Land dampfte, dann kam auch da Gleiches zu Gleichem. Vollkommen entsprach das gemächliche Tempo seines Gangs der Unscheinbarkeit, ja der vordergründigen Hässlichkeit des Wegstücks, das seine Reize nur dem aufmerksamen Betrachter enthüllte. Und was tat der Rauch seiner Zigarre denn anderes, als ebendiese zarten Reize nach Kräften zu fördern? Kaum hatte der Gaumen die Geschmacksstoffe des Tabaks aufgenommen und das Nikotin in die Blutbahn befördert, da trat der ins Freie entlassene Rest schon dem unverwechselbaren Gasgemisch bei, das nur der Konvention halber auch in der DDR weiterhin Luft genannt wurde. Dabei hätte es eine eigene Bezeichnung verdient, einen Namen, der seine Stärken betonte. Und die lagen nun mal nicht im Sauerstofftransport, sondern vor allem auf dem Gebiet der dioptrischen Lichtwirkungen. Hätte Goethe doch nur 150 Jahre später in Sachsen-Weimar gelebt! Der den »trüben Mitteln« gewidmete Abschnitt der Farbenlehre wäre wohl noch reicher ausgefallen. Denn welch hohe Meinung hatte dieser Augenmensch vom Dunst:
154. Die Sonne, durch einen gewissen Grad von Dünsten gesehen, zeigt sich mit einer gelblichen Scheibe. Oft ist die Mitte noch blendend gelb, wenn sich die Ränder schon rot zeigen. Beim Heerrauch (wie 1794 auch im Norden der Fall war) und noch mehr bei der Disposition der Atmosphäre, wenn in südlichen Gegenden derScirocco herrscht, erscheint die Sonne rubinrot mit allen sie im letzten Falle gewöhnlich umgebenden Wolken, die alsdann jene Farbe im Widerschein zurückwerfen.
Morgen und Abendröte entsteht aus derselben Ursache. Die Sonne wird durch eine Röte verkündigt, indem sie durch eine größere Masse von Dünsten zu uns strahlt. Je weiter sie heraufkommt, desto heller und gelber wird ihr Schein.
155. Wird die Finsternis des unendlichen Raums durch atmosphärische, vom Tageslicht erleuchtete Dünste hindurch angesehen, so erscheint die blaue Farbe. Auf hohen Gebirgen sieht man am Tage den Himmel königsblau, weil nur wenig feine Dünste vor dem unendlichen finstern Raum schweben; sobald man die Täler herabsteigt, wird das Blaue heller, bis es endlich in gewissen Regionen und bei ausnehmenden Dünsten ganz in ein Weißblau übergeht.
156. Ebenso erscheinen uns auch die Berge blau; denn indem wir sie in einer solchen
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