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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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warten kann, dem zeigt die Welt das meiste von allein. Was dreht sich in ihr nicht alles im Kreis, geht nach hinten weg und kommt von vorne wieder, steigt auf, um zu versinken, erkaltet, um sich zu erwärmen, stirbt und wird. Nicht sein Radius macht einen Menschen zum Sphärenwesen, sondern seine Achse. Ihre Stärke entscheidet über die Fülle, mit der das Karussell der Dinge und Erscheinungen sich um ihn dreht. Ihre Höhe bestimmt die Weite, die er überblickt, ob sie ein bewölkter Hinterhof ist oder der Sternenhimmel, in dem sich das ganze Unterweserland spiegelt. Und ihre Tiefe? Sie verankert ihn im Geschicht der Zeiten. Würde es heute noch verstanden, das vertikale Verhältnis zur Welt ließe sich mit einem einzigen, der platonischen Philosophie entstammenden Wort bezeichnen: Schau.
    Um sich zurechtzufinden, muss man nicht schauen. Man muss nur die Augen offen halten. Achtgeben, ob ein Auto um die Ecke kommt. Aufpassen, dass einem keiner in den Rücken fällt. Ein Gesicht machen, wenn der Fotograf die Hand hebt. Wer aber die Kraft zu Schau hat, dessen Augen suchen nichts, was sich auf Papier fixieren ließe, schon gar nicht auf Fotopapier.
    Nach unserer missglückten Begegnung auf dem Turm habe ich Onkel Martin nie wieder gesehen. Aber ich habe sein Land bereist. Ich ahnte allerdings nicht, wohin wir da fuhren, als mein Vater und ich uns im Oktober 1986, an einem Tag, der schon mittags in München und nachmittags in der Oberpfalz nichts als kalt und grau gewesen war, durchs Hofer Land der DDR näherten. Begriffen habe ich es ohnehin erst viel später. Aber dass mit dem Grenzübertritt ein neues Element in meinLeben getreten war, etwas Bedeutsames, mit dem ich nicht im Mindesten gerechnet hatte, das war mir schon am Abend desselben Tages klar, als ich in einem schmalen Bett lag, unter einer Decke, die in meiner Erinnerung grün ist, und mir warm und wohl zumute war. Dabei wäre ich um ein Haar gar nicht mitgekommen. Familienbesuch war eben Familienbesuch. Und was sollte ich im Land der bärtigen Speerwerferinnen? Doch dann hatte es mich gerufen.
    Komm in den totgesagten park und schau:
    Der schimmer ferner lächelnder gestade.
    Der reinen wolken unverhofftes blau.
    Erhellt die weiher und die bunten pfade.
    Dort nimm das tiefe gelb. das weiche grau
    Von birken und von buchs. der wind ist lau.
    Die späten rosen welkten noch nicht ganz.
    Erlese küsse sie und flicht den kranz.
    Vergiss auch diese letzten astern nicht.
    Den purpur und die ranken wilder reben
    Und auch was übrig blieb von grünem leben
    Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.
    Nüchtern betrachtet war es weniger das Ziel als die Aussicht auf ein Wochenende mit meinem Vater gewesen, die mich doch noch umgestimmt hatte. Reisen ging nämlich immer ganz gut mit ihm. Wir konnten einfach mehr miteinander anfangen, wenn die Anwesenheit der Frau, die laut Standesregister seine Gattin und meine Mutter war, unser Verhältnis nicht noch komplizierter machte, als es ohnehin schon war.Auch unterwegs gab es kaum einen Moment, in dem wir das Gleiche gewollt hätten. Aber es gelang uns, Kompromisse zu schließen. Ich besuchte mit ihm Schlösser und Museen, er zog mir zuliebe Wanderstiefel an. Natürlich stritten wir ständig, Anlässe gab es genug: Die politische Systemfrage war keineswegs entschieden, und auch die Hochspannungsmastenfrage nicht, in der ich die Landschaftszerstörung geißelte, während er mich daran erinnerte, dass ich diesen Schandmalen der technischen Zivilisation nicht nur Sportschau und LGB verdankte, sondern – als Sohn eines Elektroingenieurs – auch sämtliche Nutellabrötchen, die ich je gegessen hatte. Aber kein Graben war so tief, dass der letzte Spieltag ihn nicht jederzeit hätte überbrücken können.
    Meine Laune hatte sich seit der Abreise kontinuierlich verschlechtert. Ohne dass mir nach Streit zumute gewesen wäre, empfand ich ein dringendes Beschimpfungsbedürfnis. Gerade hatte Werder wieder gegen die Bayern gespielt, zum ersten Mal seit dem Desaster vom April. Wieder unentschieden. Wieder wäre mehr drin gewesen. Und wieder hatten die Verantwortlichen nach dem Spiel rhetorische Giftpfeile aufeinander geschossen.
    »So ein Arschloch«, sagte ich.
    »Wer denn?«, fragte mein Vater, offensichtlich durch die Wortwahl gereizt und bereit zum Gegenschlag.
    »Der Hoeneß.«
    Ich hatte richtig vermutet. Er reagierte nicht so, als sei er persönlich angegriffen worden. Seine Miene entspannte sich.
    »Ich weiß, was du meinst.

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