Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Trotzdem musst du das ruhiger sehen. Hanseatisch. Irgendwann wird Werders Stunde schon kommen. Und dann wird man uns ganz sicher auch in München gratulieren.«
»Aber nur, wenn wir uns ein paar dreckige Tricks von denen abgucken.«
»Vom Rumschimpfen wird’s aber auch nicht besser. Ich kann es dir nur immer wieder sagen: Wenn du nur halb so viel Kraft aufs Lamentieren verschwenden würdest, könntest du schon ganz woanders sein.«
»Apropos: Wie lange noch bis zur Grenze?«
»Halbe Stunde vielleicht.«
Je näher wir Ostdeutschland kamen, desto verschlossener wirkte mein Vater. Deutlich konnte ich den Widerstand spüren, mit dem er sich auf die unbekannte Zone zubewegte. Er wollte da nicht rein.
Trotzdem bat er um Einlass.
Auf die Fragen des Grenzsoldaten antwortete er so knapp wie möglich. Er wirkte eingeschüchtert, seine Stimme schwankte, auch der Versuch eines leicht maliziösen Tonfalls misslang. Er fand keinen Halt in der ihm aufgezwungenen Situation. Ich hingegen war plötzlich vollgepumpt mit Adrenalin. Die Kamera! Es überraschte mich, dass ich während der ganzen Fahrt nicht an sie gedacht hatte. Im Hohlraum meiner Ricoh, zwischen dem Klappspiegel und einem alten, bereits belichteten Film, befanden sich nämlich zehn gefaltete blaue Scheine. 1000 Ost-Mark – Geld für all die Schätze, die ich mir kaufen wollte und meinen Freunden mitzubringen versprochen hatte. Auch das war ja ein Grund gewesen, doch mitzufahren: die Aussicht auf den hemmungs- und beinahe kostenlosen Konsum von Kulturgütern. Noten von Bach, Händel, Beethoven, Tschaikowskij und Skrjabin wollte ich über die Grenze schaffen, Bücher sämtlicher verfügbarer Russen, Platten von Okudshawa und Wysotzki, nach Möglichkeit eine Großbildkamera und natürlich alles fürs Schwarz-Weiß-Labor,ORWO-Fotopapier in Grün, Blau und Rot, jeweils glänzend, matt und seidenmatt, Plastikwannen, Entwickler und Fixierer. Ich glaube, viel mehr als hundert D-Mark hatten die sogenannten Devisen nicht gekostet, ich weiß es nicht mehr genau, nur das strenge Gesicht des Münchener Bankbeamten steht mir noch vor Augen.
»Des derfst fei net einführn, des woast scho, oda?«, hatte er gebrummelt.
Ich behauptete, es als Requisite für ein Theaterstück zu benötigen, aber er hatte sowieso nur seiner Pflicht Genüge getan. Technisch gesehen handelte es sich um Schmuggel, das war mir klar; und das Versteck war ziemlich gut. Aber bis der Grenzer sein Werk zu verrichten begann, hatte ich keinen Gedanken an die Psychologie des Schmuggelns verschwendet. Ich hatte die DDR auf die leichte Schulter genommen. Und nun verhielt der Typ sich so, als suche er tatsächlich nach etwas Verbotenem. Ich fragte mich ernsthaft, ob er vielleicht einen Hinweis bekommen haben könnte. Wenn es dagegen nur Schikane war, funktionierte sie jedenfalls. Dann wurde mein Vater aus dem Auto gebeten. Er verschwand mit dem Soldaten, erst minutenlang hinter der geöffneten Kofferraumklappe, dann noch länger im Grenzhäuschen. Die Fenster waren mit Sichtschutzgardinen verhängt, so dass ich nicht erkennen konnte, was drinnen vor sich ging. Als er wieder einstieg, war er kreidebleich. Ich meine, mich an Schweißperlen auf seiner Schläfe zu erinnern; unwahrscheinlich ist das nicht, denn er schwitzte schnell. Sicher aber weiß ich, dass er ganz, ganz langsam in die DDR hineinfuhr, wie in die Waschanlage, die er seinem Auto alle zwei Wochen gönnte. Erst auf der Autobahn gab er wieder Gas, aber nur verhalten, offensichtlich wollte er nicht mal in die Nähe der erlaubten100 Stundenkilometer kommen. Ich fragte ihn, ob er mit dem Grenzer Kaffee getrunken habe. Er fand das nicht lustig. Dann erzählte ich, auch das in der Absicht ihn aufzuheitern, von dem versteckten Geld. Da war er plötzlich wach. Und bebte vor Wut. Ich hatte ihn kaum je schreien gehört. Jetzt schrie er. Ich wusste, dass nur ein Teil des Zorns tatsächlich mir galt. Aber es blieb noch genug für mich übrig, um einzusehen, dass es sehr eigensinnig gewesen war, für ein paar Einkäufe die ganze Reise aufs Spiel zu setzen. Und offenbar nicht nur das. Vielleicht wollte er sich aber auch einfach nur Luft machen:
»Wir besuchen zum ersten Mal unsere Familie im Osten, und du denkst nur ans Einkaufen? Begreifst du eigentlich, dass die unsere Geschenke nötiger haben als du dein verfluchtes Fotopapier? Dir ist wohl klar, dass wir vielleicht hätten umkehren müssen, ja? Aber weißt du auch, dass die Dresdener deswegen richtig Ärger
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