Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
Vom Netzwerk:
mich hüllte.
    Ich dachte an das späte Abendbrot, das uns noch serviert worden war. Die Wurst hatte gar nicht mal so übel geschmeckt, und das Radeberger Bier unterschied sich vom Augustiner vor allem dadurch, dass ich es nicht heimlich trinken musste.
    Das Gespräch hatte zunächst eine gewisse Schieflage gehabt. In meinem Vater mochte es ganz anders ausgesehen haben als in mir, aber der Grundbass unserer Gedanken war spürbar der gleiche gewesen. Wir hatten beide ein starkes Bewusstseindes In-der-DDR-Seins. Wie auch anders? Was lange nur als Idee existiert hat, als Unterschied von kategorialem Gewicht, das braucht schließlich immer etwas Zeit, um wirklich zu werden. Da ging es uns nicht anders als einem Jungen, der bei seinem ersten Rendezvous die ganze Zeit denkt: ein Mädchen, Wahnsinn, ein Mädchen, nur ich und ein Mädchen! Vordergründig unterhielten wir uns ganz normal, sagten dies und das, aber im Kopf regierte noch die Tagesschau. Verfluchter Polizeistaat, dürfte mein Vater gedacht haben; faszinierendes Sowjetreich, dachte ich; sieh mal an, unsere Ostverwandten, dachten wir wohl beide. Dann aber kam es raus, als mein Vater nämlich meinte, mich verpetzen zu müssen. Er sagte zwar nichts von den Ost-Mark, doch es kam mir wie eine verspätete Rache vor, als er diesen von der Diktatur des Proletariats geknechteten Seelen gestand, dass sein Sohn sich Illusionen über den Sozialismus mache. Das stimmte natürlich irgendwie. Aber eigentlich war ich eher unpolitisch. Das Wort »Sozialismus« hatte in meinen Ohren einfach einen schönen, reichen Klang. Linker Zeitgeist, jugendliche Schwärmerei, philosophischer Ernst, abgrundtiefer Hass auf Hoeneß, Strauß und Kohl, all das brachte es zum Ausdruck; am schwersten aber wog in ihm die Sehnsucht nach Russland und ja, auch nach der Sowjetunion als der gegenwärtigen Gestalt dieses Landes. Trotzdem hatte ich das Gefühl, es nun verleugnen zu müssen.
    »Nicht Sozialismus. Marxismus!«, sagte ich verlegen. Als ob das einen Unterschied gemacht hätte.
    Aber die drei gingen gar nicht weiter darauf ein. Das Bedürfnis des Westcousins, eine politische Solidaritätsadresse abzuliefern, schien sie nicht zu überraschen. Also ließen sie es geschehen, wohl in der Hoffnung, dass sich die Hysteriebald legen würde, und im sicheren Bewusstsein, dass sie mehr zu bieten hatten als ihre Existenz in einem Unrechtsstaat. Wahrlich, das hatten sie. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, aber bald ergab es sich, dass S. seinen Vater bat, das Gedicht vom »Reschedrubbe« vorzulesen, das er als junger Mann mal geschrieben hatte. C. tat es, und als wir gar nicht anders konnten, als über seinen scharfen und doch ganz harmlosen Wortwitz zu lachen, da saßen uns mit einem Mal drei normale Menschen gegenüber. Liebenswürdige Menschen, die auf eine bescheidene Weise etwas besaßen, das uns fehlte. Ich hatte keinen Namen dafür, aber es war ohne jeden Zweifel da und ebenso sicher schien mir, dass nichts und niemand es ihnen nehmen konnte.
    Nachdem wir uns zur Nachtruhe verabschiedet hatten, wartete ich, bis mein Vater im Bad verschwunden war. Dann ging ich noch einmal nach oben, klopfte an der Wohnzimmertür und wartete, bis ich hereingebeten wurde. M. und S. waren schon nicht mehr im Raum. C. saß in einem Sessel. Er schloss das Buch, in dem er gerade gelesen hatte, und legte es auf die Lehne.
    »Na, noch gar nicht müde?«, fragte er.
    Ich rang mit meiner Scheu. Aber es war mir wichtig, also sagte ich es:
    »Was Zweili« – ich rief meinen Vater mit seinem Spitznamen – »da vorhin gesagt hat, das mit dem Sozialismus: das war nicht fair.«
    C. schien überrascht von dieser Distanzierung.
    »Warum denn nicht?«
    »Weil es mir nicht um die DDR geht, sondern um die Idee. Ich weiß, dass hier nicht alles optimal ist. Aber bei uns eben auch nicht.«
    »Das verstehe ich vollkommen«, sagte er. »Als junger Mann dachte ich da nicht anders. Und dann habe ich einsehen müssen, dass es einfach nicht funktioniert. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlimm. Irgendwann habe ich nämlich zu ahnen begonnen, dass dieses Land in seinem So-und-nicht-anders-Sein mir möglicherweise etwas sagen will.«
    »Und was?«
    »Dass die letzten Unterschiede nicht politischer Art sind.«
    Ich tat so, als dächte ich nach. Dann sagte ich noch:
    »Vor allem liebe ich Russland.«
    »Kennst du es denn?«
    »Nein, aber die Literatur.«
    »Siehst du, das verstehe ich sogar noch besser. Und daran hat sich auch mit

Weitere Kostenlose Bücher