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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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ertönte.
    »Komisch, eigentlich hat er heute gar keinen Dienst«, sagte er und schien kurz nachzudenken.
    Als er fortfahren wollte, unterbrach ihn seine Mutter. Sie fasste mich am Arm und wies auf einen Mann in Pelzmütze und langem Mantel, der vielleicht 100 Meter von uns entfernt stand. Er trug irgendetwas über der Schulter.
    »Du wolltest doch einen Rotarmisten sehen – da!«
    Hatte ich das wirklich so gesagt? Aber es stimmte. Die Rote Armee bedeutete mir etwas. Sie erinnerte mich an den großen Moment, in dem sich mir das Tor zum Osten geöffnet hatte. Letztes Jahr an Weihnachten war das passiert, am zweiten Feiertag, als alle schon schliefen und ich mehr oder weniger heimlich Doktor Schiwago im Fernsehen anschaute: Es war eines der seltenen Kulturerlebnisse gewesen, die einem Leben eine neue Richtung geben. Dabei hatte es überhaupt keine Rolle gespielt, dass die Roten die Bösen waren. Natürlich rührte mich die Liebesgeschichte im Mahlstrom der Revolution zu Tränen. Aber das Bild vom sonnendurchfluteten Holzhaus in der Weite des Urals, dem Ort vermeintlichen Glücks, der Lara und Juri zusammenführt, stand einträchtig neben einem Bild kalter Macht: Wie der schneidig uniformierte Strelnikow dem Zug entsteigt, der die Revolution ins Land tragen soll, und auf einer Lichtung Gericht hält – auch das zog mich an. Auf ganz unterschiedliche Weise fand ich beide Bilder schön. Und mit dieser Schönheit packte mich das Verlangen, die historischen Zusammenhänge zu begreifen, die sie ermöglicht hatten.
    Darum nahm ich mir schon am zweiten Weihnachtstag noch einmal die Einführung in den Marxismus vor, die ich kurz zuvor bei der Bundeszentrale für politische Bildung bestellt hatte. Beim ersten Mal hatte ich überfordert aufgegeben, aber jetzt las ich das Buch von der ersten bis zur letzten Seite durch, auch wenn ich vieles immer noch nicht verstand. Als ich im April konfirmiert wurde, hatte sich meine neue Leidenschaft herumgesprochen. Kaum jemand traute sich, mir etwas anderes zu schenken als von Russen geschriebene oder Russland thematisierende Bücher. Ich verschlang sie alle, die dreibändigen Memoiren Paustowskis, die Erzählungen Tschechows, Turgenjews Aufzeichnungen eines Jägers , den Bildband über die Sowjetunion und sogar den Russland-Ploetz. Nur vor Tolstoi kapitulierte ich vorerst. Im September gehörte ich zu den neun Schülern unseres Jahrgangs, die als dritte Fremdsprache Russisch zu lernen begannen. Unser Lehrer, ein äußerst feiner Mensch namens Dmitri Milinski, der im März 1942 siebenjährig über den Ladogasee aus dem belagerten Leningrad geflohen war, kam mir allerdings nicht besonders russisch vor. Dafür sagte er zu häufig, zu akzentfrei, zu auswendig, kurz: zu bewundernswert sicher deutsche Gedichte auf.
    Der Mann auf der Brühlschen Terrasse aber – der war fremd genug. Da stand er nun also, mein erster Russe, der natürlich ebenso gut ein Tschuwanze oder Kalmüke sein konnte. Ganz bestimmt aber handelte es sich um einen Rotarmisten, auch wenn er mir nicht als das erschien, was er vermutlich war: eine arme Sau im Auslandsdienst, die ihr Heimweh notdürftig mit Stolitschnaja und einem Bildchen von Olga Ostroumowa bekämpfte. Für mich war er ein stolzer Revolutionär, ein Faschistenzerquetscher, ein WiedergängerStrelnikows. Ich überlegte, ihn zu fotografieren, doch ich traute mich nicht.
    Fast mehr noch als der Anblick aber freute mich die Aufmerksamkeit, mit der M. ein Bedürfnis ernst genommen hatte, das sie sicher nicht von sich selbst kannte. Dabei war es als solches noch nicht einmal ausgesprochen worden, eher hatte sie sich einen sehr einfühlsamen Reim auf den Spott meines Vaters gemacht. Und so ging es weiter. Es waren meine Augen, mit denen C. im Buchladen am Altmarkt die Regale inspizierte und mir dann verschiedene Bücher zum Kauf vorschlug. Eines davon war eigentlich kein Vorschlag. Der Ernst, mit dem er mir Dostojewskis Idiot in die Hand legte, wirkte auf mich wie ein dringender Rat, ja fast wie eine Bitte. Ich kam ihr erst Jahre später nach und verstand sofort.
    Die weiteren Einkäufe gestalteten sich schwieriger als gedacht. Das Fotozubehör – bis auf die Großbildkamera – war schnell gefunden, aber Schallplatten und Noten, so stellte ich fest, konnte man hier zwar in Massen kaufen, aber so gut wie nichts von dem, was meine Freunde bei mir bestellt hatten. So blieben schließlich mehr als 800 Ost-Mark übrig. Was damit anfangen? Ich beschloss, im Kellerzimmer

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