Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
zunehmendem Alter nichts geändert.«
»Stimmt es denn, dass man hier gut russische Literatur kaufen kann?«
»In der Regel schon, vor allem die Klassiker. Ich zeige dir morgen den Buchladen. Da kannst du sicher was von dem Geld lassen, das ihr noch umtauschen müsst.«
Ich merkte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Kurz erwog ich, C. auch den Devisenschmuggel zu beichten. Doch ich befürchtete, dass das die aufgeräumte Stimmung doch ein wenig zu sehr strapaziert hätte.
»Aber unter den aktuellen Schriftstellern«, fuhr er fort, »gibt es welche, die sind immer schnell weg.«
Er ging zum Bücherregal, zog ein schmales Taschenbuch heraus und gab es mir.
»Das hier zum Beispiel. Ich weiß nicht, ob du den Autor kennst. Du kannst ja mal reinlesen. Wenn es dir gefällt, darfst du es gerne behalten.«
Ich kannte den Autor, aber das Buch kannte ich nicht. Derschon etwas abgewetzte Deckel zeigte ein Bild im naiven Stil: ein Dampfschiff auf einem See zwischen lauter bunten Bergen.
»Danke«, sagte ich und wünschte ihm eine gute Nacht.
»Gute Nacht. Mögen Morpheus’ Arme dich sanft wiegen!«
Während mein Vater schon in tiefen, langen Zügen atmete, begann ich das Buch zu lesen. Es handelte von einem Jungen im kirgisischen Gebirge, der seinen Vater noch nie gesehen hatte. Dieser arbeite, so hatte der Großvater dem Jungen erzählt, als Matrose auf dem großen See, den man vom Gebirge aus in weiter Ferne erkennen konnte:
Die Sonne neigte sich schon zum Untergang auf der Seeseite. Die Hitze ließ nach. Auf den östlichen Hängen entstanden die ersten kurzen Schatten. Je tiefer die Sonne sank, desto weiter würden die Schatten herunterkriechen zum Fuß der Berge. Zu dieser Tageszeit erschien gewöhnlich der weiße Dampfer auf dem Issyk-Kul. Der Junge stellte das Glas auf den entferntesten Punkt ein und hielt den Atem an. Da! Und sogleich war alles vergessen. Am dunkelblauen Rand des Issyk-Kul war der weiße Dampfer aufgetaucht. Da war er! Mit einer Reihe von Schornsteinen, lang, gewaltig, schön. Er schwamm wie ein Lineal, so gleichmäßig und gerade. Der Junge wischte hastig die Gläser am Hemdzipfel ab und korrigierte nochmal die Okulare. Die Umrisse des Dampfers wurden noch deutlicher. Jetzt war schon zu sehen, wie er auf den Wellen schaukelte und hinter dem Heck eine Spur von hellem Schaum zurückblieb. Unablässig hingerissen starrte der Junge auf den Dampfer. Ginge es nach seinem Willen, so hätte er den Dampfer gebeten, näher heranzufahren, damit die Menschen darauf in Sicht kämen. Doch der Dampfer wußte nichts davon. Langsam und majestätisch verfolgte er seinen Weg, unbekannt woher und wohin. Lange war zu sehen, wie der Dampfer dahinglitt, und der Junge dachte langedarüber nach, wie er sich in einen Fisch verwandeln und durch den Fluß zu ihm, dem weißen Dampfer schwimmen würde …
Mein Schlaf in dieser Nacht war tief und satt. Als ich am nächsten Morgen die Küche betrat, roch es nach frischem Kaffee.
»Ah, Jacobs Krönung«, sagte ich nach der Begrüßung zu M., vielleicht ein Spur zu jovial.
»Nein, Dallmayr Prodomo«, sagte sie. »Den bringen meine Verwandten aus Solingen immer mit. Haben wir noch für Monate auf Vorrat.«
Umso besser, dachte ich und setzte mich. Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne schien mild, neben der Spüle röchelte eine altersschwache Kaffeemaschine. Irgendwo im Raum piepte es. Ich guckte mich um und sah einen Käfig, in dem sich ein Wellensittich über kleingeschnittene Kiwis hermachte. Ich fragte mich, ob es zu käptncookmäßig rüberkäme, wenn ich die Eingeborenen darauf hinwiese, dass diese Frucht bei uns als Delikatesse galt. Und dass sie sensationell frisch schmeckte. Ich tat es.
»Wir kennen die«, sagte M. »Aber außer Tirili mag sie bei uns niemand.«
Es lag keine Spur von Zurückweisung in dieser Auskunft. Sie sprach einfach nur aus, was der Fall war. Schon die erste Begegnung am Morgen bestätigte also den rundum angenehmen Eindruck vom Vorabend. Und im Laufe des Tages verfestigte er sich. Auf dem langen Spaziergang, den wir später durch die Innenstadt machten, erwies sich C. als ein wunderbarer Führer. Er sprach ruhig, druckreif, ungemein kundig und nicht einen Moment langweilig. Auf der Brühlschen Terrasse übergab er an seinen Sohn, der uns nun, ähnlichfesselnd, in die Grundzüge der Elbschifffahrt einweihte. Viele der vorbeikommenden Schiffe kannte er mit Namen. Einmal winkte er einem Kapitän zu, worauf ein langes Tutsignal
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