Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
genug sein.«
Der Sender rauschte, aber das machte nichts. Wir wollten ja keine Musik hören, sondern dies:
… den 1. FC Köln mit 3 : 1, der 1. FC Saarbrücken trennte sich vom Hamburger SV unentschieden 2 : 2, Bayern München schlägt Waldhof Mannheim 3 : 1. Und im Abendspiel gewann Werder Bremen gegen Eintracht Frankfurt mit 4 : 0.
Mein Vater lächelte triumphierend, als ob er das Ergebnis vorhergesagt hätte. Ich lächelte spöttisch. Tu doch nicht so, als ob du das vorhergesagt hättest, sollte das bedeuten.
»Perfektes Wochenende«, sagte ich.
»Ich habe es dir von Anfang an gesagt«, sagte er. »Aber dich muss man ja immer erst zu deinem Glück zwingen.«
Es wäre kein Problem gewesen, ihm zu widersprechen.
11. KAPITEL
STIMMEN
Man kann unmöglich von Martin und Friedrich erzählen, ohne über eine fundamentale Tatsache zu sprechen. Beide waren religiös. Aber auf welche Weise? Etwa so, dass die Religion eine innere Verbindung – es wäre die einzige gewesen – zwischen ihnen gestiftet hätte? Nein, das wäre zu viel gesagt. Dafür zeigte sich in der Art ihres Glaubens zu deutlich die ganze Art ihres Lebens. Ja, vielleicht trat ihre Gegensätzlichkeit sogar nirgends so offen zutage wie in den letzten Wahrheiten, zu denen sie sich bekannten. Doch dass sie überhaupt das Bedürfnis hatten, zu glauben und sich zu bekennen: das verband sie tatsächlich. Ihre Brüder Heinz und Jan kannten dieses Bedürfnis nämlich nicht, ebenso wenig wie die Mutter und die Großmutter. Wenn allerdings keines von diesen Familienmitgliedern sich als ungläubig oder auch nur agnostisch bezeichnete, dann nur, weil es ihnen die Mühe nicht wert gewesen wäre.
Es war der Vater, von dem die Religion kam.
Heinrich Leo war der Sohn eines lutherischen Pfarrers. Wären Martin und Friedrich zu Beginn des, sagen wir, 17. oder 18. Jahrhunderts geboren worden, wäre damit schon viel über die Art ihres Glaubens gesagt. Was immer einen Lutheraner in diesen Zeiten ausgemacht haben mochte, seine Kinder dürften der konfessionell vorgeschriebenen Bahn in der Regel treu geblieben sein. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts?Was bedeutete es, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Abkömmling eines protestantischen Pfarrhauses zu sein?
Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Um die Jahrhundertwende befanden sich viele gebildete Protestanten in innerer Distanz zu ihrer Kirche. Sie mochten noch den Gottesdienst besuchen, das Abendmahl empfangen und den Pastor für Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen in Anspruch nehmen. Doch so selbstverständlich das Leben weiterhin von der Kirche gerahmt wurde, so fragwürdig war ihre Deutungsmacht geworden. Wie lässt sich aus der Überlieferung Sinn für die Gegenwart ziehen, ein Zeitalter, in dem die Erde alle zehn Jahre ein neues Gesicht zeigt, in dem auch Wissenschaft und Nationalstaat höchste Geltung beanspruchen? Der Orientierungsbedarf war gewaltig und das religiöse Gefühl durchaus nicht erloschen. Die Entfremdung von der Kirche ging daher oft Hand in Hand mit dem Willen zur spirituellen Erneuerung. Wer sind wir im Verhältnis zu Gott? Was bedeutet es, ein Christ zu sein? Muss sich die Religion in den Dienst der Moderne stellen oder soll sie ihren Geist bekämpfen? Die krisenhafte Unruhe, die aus solchen Fragen sprach, fand ihren Ausdruck in einer wahren Flut von Besinnungsund Bekenntnisschriften. Nur einige davon, etwa Adolf von Harnacks Bestseller Das Wesen des Christentums , waren zur Veröffentlichung bestimmt. Die überwältigende Mehrheit der Autoren, meist einfache Pastoren, Lehrer, Ärzte und Staatsbeamte, schrieb für den Hausgebrauch, zur Verständigung mit sich selbst und zur Erbauung ihrer Nächsten. Doch zeigte sich nicht genau darin ein lebendiger Protestantismus? Was wäre schließlich protestantischer als das wortreiche Ringen um den Glauben und eine kritische Distanz zur Kirche, magsie ihren Sitz nun in Rom haben oder in Hannover? Schon möglich. Aber es gibt einen gravierenden Unterschied zu früheren Erneuerungsbewegungen, etwa um 1500 oder um 1700. Die Unruhe der Reformatoren und der Pietisten hatte ihren Grund in echter Glaubensnot, der Sorge um das individuelle Seelenheil. Bei den Lutheranern um 1900 ging die Unruhe dagegen nicht mehr vom Gewissen aus, sondern vom historischen Bewusstsein. Mehr noch als Kinder der Reformation waren Protestanten wie Heinrich Leo nämlich Kinder der Geschichte. Mein Urgroßvater hielt sie für die höchste und letzte Instanz allen irdischen
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