Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Geschehens, und zwar nicht die christliche Heilsgeschichte, sondern die Weltgeschichte, in der auch die Religion nur ein Phänomen neben anderen ist.
Das 19. Jahrhundert hatte das Christentum vergegenständlicht und historisiert. Jesus? Ein großer Mann, wie Luther. Die Bibel? Ein von Menschen geschriebenes und redigiertes Buch. Die Kirche? Eine Institution im Wandel. Nichts Irdisches ist unwiderruflich. Alles kommt und geht. Alles verändert sich. Alles gibt es im Plural. Sprachen. Staaten. Und ja, auch die eigene Religion. Aber was ist das denn für eine Religion, die sich selbst als ein Stück Geschichte begreift? Kann sie überhaupt noch Glaubenssätze prägen und kultische Handlungen vollführen, denen sie absolute Gültigkeit beimisst? Hat sie noch die unbedingte Kraft zur Transzendenz? Nein, die hat sie nicht mehr, und genau darin liegt das Problematische ihres Zustands: Nichts ist mehr sicher – außer der eigenen Unsicherheit (und der Verachtung des Katholizismus natürlich). Um die Jahrhundertwende gibt es für diesen Zustand denn auch einen Namen, und dieser Name sagt alles: Kulturprotestantismus heißt er.
Eine Religion, die sich selbst als Kultur begreift, hat den Rubikon überschritten. Sie steht mit beiden Beinen in der Wirklichkeit. Doch diese Wirklichkeit ist nicht das, was wir heute so nennen. Sie ist nicht unbekümmert um Gott und die letzten Dinge. Sie ist nicht »weltlich«, im Gegenteil. Sie ist ein weites Feld voller religiöser Trümmer. Gerade die Protestanten mit besonders wachem Kopf und regem Herzen sind es ja, die sich ungläubig in dieser Zone des Religiösen wiederfinden. Nach wie vor gibt es hier die Rede von Gott, es gibt Riten, es gibt Kirchen, es gibt geistliche Ämter, es gibt moralische Gebote, es gibt vom Himmel legitimierte Herrscher. Vor allem aber gibt es die ebenso existentiellen wie unbeantwortbaren Fragen noch, derentwegen der Mensch sich überhaupt ins Verhältnis zu Gott setzt. Aber all das fügt sich nicht mehr zu einem Ganzen.
Eine unangenehme Lage, die nach einer Reaktion verlangt. Aber welcher? Der um Ordnung bemühte Historiker in mir zählt vier Wege, die ein orientierungsbedürftiger Protestant damals wählen konnte. Er konnte dem religiösen Trümmerfeld den Rücken kehren und sich ganz den hiesigen Dingen zuwenden, mochte das dann Elektrotechnik, Kindererziehung oder soziale Frage heißen. Dieser Weg ist konsequent und im Rückblick muss man wohl sagen, die Mehrheit der Protestanten ist ihn im Lauf des letzten Jahrhunderts gegangen. Man konnte aber auch in der unerreichbaren Nähe des Religiösen ausharren. Zum Beispiel, um es zu erforschen. Für einige Klassiker der historischen Kulturwissenschaft, Max Weber und Ernst Troeltsch etwa, stand dieser Impuls am Anfang ihres Denkens. Doch das kam nur für gleichermaßen hochbegabte und heroische Naturen in Frage. Andere wählten den Rückweg in den Glauben. Glauben kann man schließlichimmer, man muss es nur wollen. Allerdings muss man sich entscheiden, woran man glauben will, ob in alter oder neuer Form wieder an Gott, das verdiente dann wirklich den Namen Religion. Oder an etwas Irdisches, etwa einen gottgewollten Gang der Geschichte. Auch das konnte mit religiöser Inbrunst geschehen, und gerade in Deutschland haben viele Protestanten dies getan. So ist es denn wohl kein Zufall, dass der inbrünstige Glaube an ein historisches Geschehen schon bald von einem unübersetzbaren deutschen Wort bezeichnet werden sollte: Weltanschauung.
In dieser Schwebe wachsen die Leojungs auf. Überall ist das protestantische Erbe zu greifen, aber es hat seine Anbindung an die Kirche und damit auch seine Heilsverbindlichkeit verloren. Zwei der vier Brüder sind anspruchslos genug, um sich ganz der entzauberten Welt zuzuwenden. Martin und Friedrich dagegen behagt die religiöse Atmosphäre des väterlichen Hauses. Was vermittelt sie ihnen? Nichts unmittelbar Religiöses, aber etwas, ohne das es zumindest eine Religion wie den Protestantismus nie gegeben hätte. Eine idealistische Grundhaltung. Eine Skepsis gegen alles »Materielle«, die sich jederzeit wieder in Glauben zurückverwandeln lässt. Einen existentiellen Ernst als Lebensgefühl. Ein Bewusstsein der Allzuständigkeit für das Befinden der Welt. Vor allem aber die dauerhafte Anwesenheit einer inneren Stimme. Das berühmte protestantische Gewissen, natürlich. Nur darf man nicht vergessen, dass dieses Gewissen nicht nur eine moralische Instanz ist, also ein Organ der
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