Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
die Rede war, dann meinte das eine starke Form, in der sich über alles Mögliche predigen lässt. Wo es aber nichts zu sagen gibt, da ist der Sound kaum noch mehr als ein Geräusch. Das klingt dann so:
Allumfassend das All erhaltend ist Gott! – Wo der Mensch in Ehrfurcht vor der Schöpfung, vor all dem Lebendigen in der Natur und der Idee des Menschentums sich erfüllt, erlebt er die göttliche Allmacht und er kämpft für sie, die Welt mitgestaltend!
Deshalb mache dir zu eigen und prüfe dich danach unentwegt:
Bedenke zuerst, daß du ein Mensch bist und daß das Menschenwürdige in deinem Wirken seinen schöpferischen Ausdruck sucht. – Ein Jeder muß durch die Höhen und Tiefen des Lebens. Ihn kennzeichnet, wie er sich dennoch um das erstrebte Ziel bemüht.
Maßstab deines Handelns in Begeisterung, Liebe und Opfer ist die Notwendigkeit deines unbeirrbaren Entschlusses, mit dem du dich jeder Zeit vor einem Größeren zu verantworten hast.–
Sei, der du bist und werde wesentlich: werde durch das, was du bist, – alles andere lerne verschweigen.–
Lebe bewußt!
Habe Mut zur Wahrheit! Bewirke das Gute, erstrebe das Edle, sei hilfsbereit und gerecht! –
Zu deinem Schicksal erkenne die dir gestellte Aufgabe, – wie du es meisterst, wirst du dein Leben gestalten und frei sein! –
Erkenne und achte in aller Natur das Lebendige, aber prüfe sein Wesen ehe du dich bekennst und liebst.
Antrieb allen Handelns sei die Freude, denn auch Arbeit ist Freude am Gestalten, und die Leistung des Bewußtwerden der eigenen schöpferischen Kraft, deshalb sei tätig! –
Bewahre der Väter Gut, bleib treu dem Boden, dem immerfruchtbarenSchoß deiner Kraft, und ehre das Brot, das dir die Erde schenkt als Lohn deines Fleißes. So ehrst du das Ewige vor deinen Kindern.
Alles was du dein Eigen nennst, bewahre es freudig als etwas dir Anvertrautes und achte es auch bei jedem Anderen, der es gleich dir ehrlich erworben hat und pflichtbewußt und treu verwaltet!
Treue und Standhaftigkeit kennzeichnen Frau und Mann. Gelassenheit, Wissen und Würde den Weisen!
Ehre Vater und Mutter, die dir das Leben gaben und lehre deine Kinder ein gleiches zu tun, denn du bist Enkel und Ahn zugleich in der Kette der Geschlechter und nur wahrhaft reich im Besitz deiner Familie, im Bewußtsein der überzeitlichen Werte deines Volkes und der Liebe, mit der du am Unsterblichen wirkst!
In allem aber, was du glaubst, tust und liebst, bedenke, daß du ein Kind deines Volkes, ein Deutscher, bist! –
Man wird begriffen haben, dass ich meinen Großvater im Großen und Ganzen nicht verachte. Doch wenn ich das lese, empfinde ich Hass. Und Mitleid mit seinen Kindern. Väterliche Unbedingtheit mag hart sein. Aber solange sie sagt, was sie will, kann man sich zu ihr verhalten. Regeln kann man befolgen, man kann sie aber auch brechen. In beiden Fällen ist klar, was man zu erwarten hat. Aber setzte Friedrich denn Regeln? Schön wärs. Ein Königreich für ein Masturbationsverbot! Hielte man sich dran, winkte väterlicher Lohn; hielte man sich nicht dran, winkte immerhin etwas anderes. Aber was setzte er dann, ein Ideal etwa? Von wegen. Ein Königreich für eine Charakteristik menschlicher Vollkommenheit! Ihr könnte man nacheifern und jede noch so kleine Verhaltensänderung als Fortschritt feiern, oder man könnte sie durch ein anderes Ideal ersetzen. Friedrich dagegen setztewider alle Behauptung gar nichts. Das sogenannte Sittengesetz benennt ja kein einziges neues Gebot. Es übersetzt Teile des Dekalogs aus unmissverständlicher Lakonie in waberndes Geraune. Und der Rest ist nichts als eine metastasierende Mahnung zu allem: zu Hochgestimmtheit, Tiefsinn und Edelmut. In immer neuen Anläufen wird Letztes ausgesagt, Größtes angedeutet, Vages beschworen – und dann mit unbedingter Schärfe geboten. Was dabei entsteht, ist eine irrlichternde Abfolge von Imperativen, ein Dauerappell zu idealischer Gesinnung, der sich wie eine bis aufs Knochengerüst ausgezehrte Parodie der protestantischen Gewissensanrufung liest. Man kennt die Wörter, aber man versteht die Sätze nicht. Wäre es nicht so unendlich ernst gemeint, man müsste die komischen Effekte bewundern, die eine an der Schwelle der Wahrnehmbarkeit fehlerhafte Sprache hervorruft, ein Deutsch, das gerade so falsch ist, dass man die Verantwortung für das Unverständnis nicht beim Sprecher, sondern bei sich selbst sucht. Die Struktur des Satzbaus stimmt, auch die tragenden Pfeiler der Grammatik, die
Weitere Kostenlose Bücher