Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Beugung der Verben und die Nominalformen, sind korrekt gesetzt. Der Irrsinn schleicht sich über die Hintertüren ein, über Präpositionen, Partizipien, Konjunktionen und Kopulaverben.
Es sind zwei formale Elemente der Predigt, die dieses Wahnsinnsgebräu, diesen Moralismus im Endstadium zusammenhalten: Rhythmus und Apodiktik. Eine suggestive Mischung, die zu kritischer Nachfrage nicht gerade einlädt. Würden diese Sätze jemandem vorgelesen, der des Deutschen nicht mächtig ist, er könnte durchaus Gefallen an ihnen finden. Parataktische Härte und periodische Ausdauer wechseln sich unvorhersehbar ab, und so hirnverbrannt sie in logischerHinsicht sein mögen, musikalisch sind die Konjunktionen wohlgesetzt. Den Akzent des Unbedingten gewinnt die Rhetorik durch die Verfilzung von Sein und Sollen. An jedem Imperativ klebt eine letztgültige Behauptung über das Wesen der Welt, und keine Aussage, die nicht schon von einer Mahnung zur Selbsterlösung penetriert wäre.
Friedrichs Kinder konnten diesem Text zweierlei entnehmen. Erstens: Man verlangt nicht weniger als das Höchste von dir. Zweitens: Das Höchste bleibt unverständlich. Es ist, als erschiene ihnen der Vater, von dem jederzeit solche Letztanweisungen drohen, in einem Albtraum. Der Traum wäre immer der gleiche. Eine existentielle Situation. Der Familie droht eine große, aber diffus bleibende Gefahr, die Kinder haben Angst, sie spüren bis ins Mark, dass es um Leben und Tod geht. Und dass alle Hoffnung auf ihnen ruht, nur sie können die Familie retten, darum ruft der Vater, der unsichtbar ist und sich anscheinend nicht bewegen kann, ihnen andauernd zu, was sie tun sollen. Sie wissen, wenn sie jetzt nicht versagen, wird sich alles zum Guten wenden. Aber der Vater ruft in einer fremden Sprache.
Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man predigen, sagte Friedrich Leo. Zumindest handelte er danach. Aber wer ist das denn, der da nicht schweigen kann? Ein Abwesender ist es. Ein Weltanschauungsdozent der Waffen-SS, der gerade in der amerikanischen Gefangenschaft versauert. Die »Richtsätze« werden seiner Familie im Sommer 1946 von einem vorzeitig entlassenen Kameraden übergeben. Seit fast zwei Jahren hat Trina ihren Mann nicht mehr gesehen, selbst dass er lebt, weiß sie nicht mit Sicherheit. Und nun hört sie ihn aus diesem merkwürdigen Text so deutlich sprechen, als stünde er neben ihr. Immer wieder liest sie den Kindern darausvor, nur damit sie sich wieder an die Stimme ihres Vaters gewöhnen, auch wenn sie eigentlich noch zu jung für den Inhalt sind. Dem Begleitbrief ist zu entnehmen, dass Friedrich die zwölf Seiten zusammen mit einigen Mitgefangenen entworfen hat, allesamt höhere SS-Angehörige wie er selbst. Sie müssen viel Zeit gehabt haben. Und gewaltigen Orientierungsbedarf. Möglicherweise hatten sie auch nicht mehr alle Tassen im Schrank. Oder wie konnte es sonst zu Sätzen wie diesen kommen: Erkenne, heißt es da im Kommentar zum dritten Gebot , daß das größte Unheil, die größten Vernichtungen und das größte Elend, das es unter uns Menschen gegeben hat, meistens durch die Schwatzhaftigkeit weniger Wissender entstand. Sie sind nicht wesentlich, sie sind nicht Herr ihrer selbst. Sie sind nicht liebensund begehrenswert. Ihnen gib kein Vertrauen. Schon möglich, möchte man sagen. Bis einem wieder einfällt, dass die Urheber dieser geschwätzigen Sätze, die ja nicht zuletzt ein beispielloser Vernichtungsfeldzug hinter Stacheldraht gebracht hatte, gar nicht sich selbst meinten. Wie ist dieser Moralexzess der Moralbrecher zu verstehen? Psychologisch, als Projektion, die einem kaum erträglichen Bewusstsein des eigenen Tuns vorbeugt? Mag sein, ich kenne mich da nicht aus. Es gibt aber noch eine andere, weniger tiefgründige Erklärung. Es könnte sein, dass sich die Schwätzer tatsächlich für Hüter einer Moral hielten. Unbestimmter Artikel: nicht der Moral, nicht des Sittengesetzes, auf das sich idealerweise alle Menschen verständigen könnten, sondern einer Sondermoral, auf die sie nur sich selbst und ihresgleichen verpflichteten. Und auch wenn diese Moral eher ein Raunen war, das mehr Fragen aufwarf, als es beantwortete: Sie trug durchaus religiöse Züge.
Es ist ein Streit um Worte, ob sich der Nationalsozialismus insgesamt als »politische Religion« deuten lässt, wie das einige Historiker tun. Jedenfalls trifft die Bezeichnung etwas Richtiges. Es steht ja fest, dass die Nazis mit den Kirchen konkurrierten. Der völkische
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