Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Rassismus wollte seine Mitglieder ganz. Wo Christentum war, soll Deutschtum werden. So lautete die Maxime, auch wenn für den Anfang nur die Avantgarde ernst damit machte. SS-Männer wie Friedrich Leo zum Beispiel. Wer Menschen ganz will, muss ihnen aber auch einen Rahmen geben, in dem sie existieren können. Er muss ihnen sagen, wer sie sind und wie sie leben sollen. Vergiss nie, dass du ein Deutscher bist, sagten darum Leute wie Friedrich mit fester Stimme zu ihren Kindern. Wie so ein Deutscher aber sein Leben einrichten soll, das ließ sich nicht mehr ganz so fest und deutlich sagen. Also mussten sie es raunen: Du kannst nicht, raunten sie etwa, zur Glaubensgemeinschaft in Christo gehören, weil du durch deine Sippe schon Teil der Abstammungsgemeinschaft des deutschen Volkes bist. Was immer du tust, tu es in Verantwortung vor der Wesensart dieses Volkes und in Ehrfurcht vor der göttlichen Macht, die dem Menschlichen mehr als nur eine Daseinsform gegeben hat. Moralisch verpflichtet bist du nur zu Pflege und Verteidigung deiner Eigenart. Edel sein heißt echt sein. Und dazu gehört die strenge Trennung von allem Fremden und Unedlen. Wenn Fremdes und Unedles dabei draufgeht, mag das tragisch sein, eine sittliche Verfehlung kann es nur nennen, wer sich Illusionen über die sogenannte Menschheit macht.
Theologisch gesehen herrscht zwischen göttlicher Gnadenwahl und Rasseprinzip ein strenger Gegensatz. Es gab für Friedrich also gute Gründe, seiner Religion abzuschwören. Ganz los wurde er sie trotzdem nicht. Er mochte eine mustergültigeFrau von der Scholle bekommen haben. Er bekam auch eine mustergültige Protestantin. Wie ihr Mann war auch Trina lutherisch erzogen worden. Aber niemand aus ihrer Familie hatte je auf der Kanzel gestanden. Von theologischer Raffinesse und pastoraler Anmaßung genauso unangefochten wie vom Jahrmarkt der Weltanschauungen, wie ihn Städte und Buchmarkt damals boten, war meine Großmutter auf eine schlichte Weise fromm. Ein tiefer Glaube an die göttliche Gerechtigkeit und Respekt vor dem geistlichen Amt – mehr hatte es mit dieser Frömmigkeit nicht auf sich. Aber auch nicht weniger.
Als Friedrich und Trina 1935 heirateten, gingen sie streng genommen eine gemischtkonfessionelle Ehe ein. Die Braut wurde als »evangelisch-lutherisch« im Standesregister geführt, der Bräutigam als »gottgläubig« – eine unter SS-Männern übliche Bezeichnung für die Ablehnung des Christentums einerseits, des Atheismus andererseits. Wie aber kommen ein gläubiger Nazi und eine fromme Christin miteinander zurecht? Kulturell gibt es da kein Problem. Fest im Luthertum verwurzelt, kennen sich beide aus mit dem Schwanken der Stimmung. Und mit den Mitteln, sie zu heben. Um ein erbauliches Wort, sei es gesprochen oder gesungen, ist Trina nie verlegen, genauso wenig wie ihr Mann. Aber auch das Luthertum ist eben nie allein eine Sache des Herzens. In der Welt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, zumal in Kleinstädten und auf dem Land, war es auch eine Sache der Gesellschaft. Mehr als alles andere jedenfalls brachte Friedrich seine Weigerung, den Gottesdienst zu besuchen, den Ruf eines Rebellen ein. Aber wie stand Trina dazu? Wie reagierte sie, als Friedrich ihr auf die Frage, wie er es mit der Religion halte, eine rebellische Antwort gab? Zunächst warsie schockiert. Solche Leute kannte sie nicht. Aber auch Städter, Gymnasiasten und Villenbewohner hatte sie bisher ja nur aus der Ferne gesehen. Gehörte die Freigeisterei bei dieser imposanten Sorte Mann vielleicht einfach dazu? Sie dachte nach. Und plötzlich wurde sie sich der Freiheit ihres Herzens bewusst – des größten Gutes, das der Protestantismus zu bieten hat. Der Pastor mochte es traurig finden, dass »sin leeven Trina« sich mit ihrer Familie nicht in seine Obhut geben wollte. Er wird mich, dachte sie, vielleicht ins Gebet nehmen. Aber er wird mir nichts verbieten. So kam es. Und so zog sie ihres Weges, eines Weges, der von ihrer Familie zu Friedrich führte. Mehr als alles andere brachte ihr dieser Gang den Ruf einer großen Liebenden ein.
Schon ihre Ehe also war nicht in der Kirche gestiftet worden. Darüber mochte sie wohl ein paar Tränen vergossen haben – aber sie wusste, was sie tat. Vor allem änderte es nichts daran, dass sie der Religion, unter deren Bann sie aufgewachsen war, im Herzen treu blieb. Viel schwerer fiel es ihr, ihren Kindern die Taufe vorzuenthalten. Sie hatte sich von alten Banden befreit, doch das war unter den
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