Flut
und lädt ihn ein, seine Gaben vor die sechs Buddha-Statuen auf dem Altar zu legen, um sich, wie sie sagt, Verdienste zu erwerben. Lama Palden bewegt ihren hochgewachsenen, schlanken Körper mit einiger Eleganz. Sie trägt eine langärmlige rosa Kaschmirbluse, darüber die gleiche Gebetskette wie Bonobo. Ab und zu schauen ihre knochigen Füße unter dem langen gemusterten Rock hervor, der am Saum mit Perlen geschmückt ist. Das Auffälligste an ihrem Gesicht ist das schmale, lange Kinn. Ihre hellen Augen unter den fast durchsichtigen Wimpern verströmen Seelenfrieden, ihr Körper lässt darauf schließen, dass sie einer radikalen Form von Vegetarismus anhängt. Ihre Stimme klingt voll und sanft. Ihr sparsamer Umgang mit Worten scheint wie eine Verbeugung vor der Stille. Sie wirkt nicht glücklich, aber noch viel weniger unglücklich. Sie tritt hinaus auf den Hof, dreht einen Wasserhahn auf und kommt mit einem vollen Eimer zurück. Ihren Anweisungen folgend vollzieht er ein reinigendes Ritual, indem er die gefalteten Hände vor Stirn, Hals und Brust hält, als Symbole für Geist, Rede und Körper, und sich anschließend verbeugt, bis er mit der Stirn den Boden berührt. Lama Palden gibt ihm noch ein paar weitere Instruktionen und zieht sich dann zurück. Mit Hilfe eines Plastikkännchens füllt er dreißig kleine Gefäße, die auf dem Hauptaltar und vor einem kleineren Eckaltar stehen, bis zum Rand mit Wasser. Er fühlt sich von den Statuen beobachtet. Er hört zwei Autos kommen. Nach und nach treffen weitere Anhänger ein. Drei sehr gut gekleidete, zurückhaltende Damen, zwei leicht verrückt wirkende jüngere Frauen, ein junges Paar, eine kurzhaarige Brasilianerin und ein langhaariger Argentinier sowie ein Surfertyp mittleren Alters mit hervorstehenden Venen und verblichenen Tätowierungen an Hals und Unterarmen, und schließlich Leopoldo, der mit seinen ein Meter neunzig beim Eintreten nach links und rechts grüßt.
Das Ritual besteht darin, sich im Schneidersitz vor Holzstützen zu setzen, zunächst aus dem linken Nasenloch auszuatmen, dann aus dem rechten und schließlich aus beiden gleichzeitig, um so Hass, Egoismus und Ignoranz zu vertreiben, den Worten von Lama Palden zu lauschen, die von der Notwendigkeit spricht, den Fallen des Egos zu entkommen und das eigene Bewusstsein zu beobachten sowie eine Reihe von Gebeten und Mantras zu sprechen, meistens drei Mal hintereinander. Die Mantras werden monoton mit nur seltenen melodischen Variationen und auffallend schnell angestimmt und bringen ihn völlig außer Atem. Zwischen zwei Gebetsabschnitten bittet Lama Palden ihre Anhänger, sich Kugeln aus Licht vorzustellen, die aus den Mündern, Kehlen und Herzen der Gottheiten in ihre eigenen wandern. Er gibt bei allen Übungen sein Bestes, schweift aber schon bald mit seinen Gedanken ab. Draußen tropft es von den Bäumen, im oberen Stockwerk hört man Schritte, und jemand wirft etwasum, vielleicht das Mädchen, das anfangs bei Lama Palden war. In letzter Zeit hatte er sich für mehrere buddhistische Ideen und Konzepte interessiert, die ihm Bonobo geduldig erklärt hatte, die Vergänglichkeit aller Dinge, die Illusion der Individualität, die Idee, der Mensch sei nichts anderes als ein flüchtiges Zusammenwirken der beiden unbeständigen Elemente Körper und Bewusstsein, die Notwenigkeit, sich von der Vorstellung zu lösen, wir seien ganz, von Dauer und unabhängig vom Fluss aller Dinge, um so auf spontanere, mitfühlendere und losgelöstere Weise durch die Welt zu gehen, weniger zu leiden und weniger Leid zu verursachen. Viele dieser Gedanken, die ihm zum ersten Mal so in Worte gefasst begegneten, entsprachen seinen eigenen Erkenntnissen und Überzeugungen, aber nichts war von dem Weg, der ihn dorthin geführt hatte, weiter entfernt als diese ständig wiederholten Lesungen und Gruppenmeditationen. Er verspürt das dringende Bedürfnis, all diesem Gerede zu entkommen, Lama und Statuen auszublenden und still und allein vor einer Wand oder dem Horizont zu sitzen oder zu laufen und zu schwimmen, bis das dauernde Gefühl, ein Mensch zu sein, sich durch die extreme körperliche Anstrengung und die Verwandlung seiner Gedanken in Schritte und Schwimmzüge, in Lunge und Herz, ganz von allein auflöst. Er versteht, wonach diese Leute suchen, es ist dasselbe, wonach er und auch alle anderen suchen, aber ihre Methoden sind anders und vielleicht, wie er jetzt glaubt, unvereinbar. Er wird langsam ungeduldig, und irgendwann wünscht
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