Flut
verlässt es gerade noch rechtzeitig, bevor es einen Wutanfall bekommt. Im Ärztehaus näht die Bereitschaftsärztin das Gesicht eines Surfers, der sich an den Felsen von Ferrugem mit seinem Brett verletzt hat. Damit sein Aussehen möglichst wenig Schaden nimmt, verwendet sie eine spezielle Methode der plastischen Chirurgie, während seine Freundin die Prozedur mit dem Handy filmt. Eine Gruppe befreundeter junger Frauen, die sich noch durch ihren Arbeitstag in Apotheken, Lottogeschäften und Boutiquen kämpfen, tauschen SMS aus und verabreden sich für den Abend zu einer Party mit Champagner und Vibratoren. Eine Korallenschlange gleitet unbemerkt über den Fuß eines Kleindealers, der auf dem Morro do Siriú Haschisch raucht. Einem Pyromanen wird das Auto beschlagnahmt, weil er ohne Führerschein gefahren ist, woraufhin er beschließt, die ganze Stadt in Brand zu setzen. In der Schule möchte ein Jugendlicher nochmal mit dem Mädchen sprechen, das ihn nach der Party im Campinense Clubentjungfert hat, aber er weiß nicht mehr genau, wie sie heißt. Der Besitzer eines Schnellrestaurants am Stadtrand zählt die Kassenzettel vom Wochenende zusammen und ruft seine Frau an, um ihr zu erzählen, dass er durch die Ausweitung des Pizza-Buffets auf den Abendbetrieb zum ersten Mal seit drei Jahren im Winter Gewinn gemacht hat. In den Büroräumen einer kleinen Einkaufspassage an der Hauptstraße richtet eine Designerin die Vektoren des Logos einer Surfboutique aus, eine Anwältin hält eine noch fast volle Schachtel Zigaretten unter den Wasserhahn der Toilette, um sie dann in den Mülleimer zu werfen, und ein Pilateslehrer hängt einen Schüler mit Hilfe von Haken und Gurten kopfüber an der Wand auf. Er schwimmt seit einigen Minuten, ohne nach vorn zu blicken, als ihm plötzlich etwas Merkwürdiges auffällt. Er hebt den Kopf und sieht vor sich eine dunkle Masse, die er zunächst für einen Felsen hält, die sich dann jedoch als der schwarze, warzige Rumpf eines Glattwals entpuppt, der in zwanzig oder dreißig Metern Entfernung vor ihm im Wasser treibt. Sein erster, panischer Reflex ist zurückzuweichen, aber dann beruhigt er sich und beobachtet das regungslose Tier. Es muss einer der letzten Wale dieser Saison sein, er ist unglaublich nah am Strand, gerade mal siebzig, achtzig Meter vom Ufer entfernt. Er erkennt Beta als kleinen blauen Punkt mit Beinen, links und rechts von ihr eine Hand voll Menschen, die den Meeressäuger bestaunen. Als der Wal eine Fontäne ausstößt, läuft ihm ein Schauer über den Rücken. Kurz darauf folgt eine weitere, kleinere Fontäne, sie klingt heller, und jetzt wird ihm klar, dass neben dem Tier, für ihn nicht sichtbar, ein Junges schwimmt. Der Wal scheint sich nicht gestört zu fühlen, er kann nicht sagen, ob er ihn beobachtet. Seine enorme Größe wirkt einschüchternd, aber gleichzeitig strahlt er Ruhe und Freundlichkeit aus. Während er den Rücken im Rhythmus der Wellen auf- und abtauchen sieht, kommt ihm der Verdacht, dass das Junge ein Neugeborenes ist und gerade gesäugt wird. Als er langsam zurückschwimmt, wirft sich dieHündin in die Wellen und kommt ihm entgegen. Sie spielen ein bisschen im Sand und hören ringsum plötzlich bewunderndes Seufzen. Der Wal schlägt mit der Flosse aufs Wasser. Eine junge Frau erklärt lächelnd, das Tier freue sich über sein Neugeborenes. Schließlich ziehen die beiden ab, und auch er macht sich mit Beta auf den Rückweg. Über der Stadt sieht er eine graue Rauchsäule aufsteigen und kurz darauf noch eine. Für einen brennenden Müllhaufen auf einem der herrenlosen Grundstücke ist der Rauch zu stark. Am südlichen Ende der Praia da Silveira surft ein Mann allein vor den Felsplatten. Das Meer ist ruhig, und die Wellen sind flach. Sonst ist niemand mehr am Strand, und plötzlich verspürt er eine große Einsamkeit, zwischen Ekstase und Angst. Es ist einer dieser Wintertage, die einem wie ein Sommertag vorkommen. Er sitzt auf seinem Brett, mit den Zehen im eiskalten Wasser, und stellt sich vor, auf der anderen Seite der Hügel wäre nichts. Über ihm kreist eine Möwe. Sie ist vollkommen weiß, und er denkt, dass es womöglich doch keine Möwe ist. Ihre Kreise werden immer kleiner, und er ist auf einmal sicher, dass es sich um ein Zeichen handelt und er sofort aus dem Wasser raus muss. Er hatte schon länger das Gefühl, gewisse Veränderungen im Meer wahrzunehmen, unsichtbare Phänomene, die schwer zu beschreiben sind. Auf dem felsigen Grund beginnt
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