Flut
einem gewissen Punkt weiter existieren und sich dabei immer neu zusammensetzen. So wie dein Körper Pflanzen und Würmer ernährt, wenn du begraben wirst. So wie die Atome deines Körpers Sternenstaub sind.
Die Atome meines Körpers können ja gerne Sternenstaub sein, das heißt aber nicht, dass in mir Sterne sind.
Jetzt hört mal auf mit dem Hippiegequatsche.
Verstehst du, was ich meine, Bonobo? Der Stern ist tot, ich werde sterben. Das spielt keine Rolle. Es waren nicht seine Atome. Meine Bewusstseinszustände sind nicht meine . Was soll überhaupt dieser ganze Scheiß von wegen Bewusstsein? Das ist doch bloß eine verkappte Art, an so etwas wie eine Seele zu glauben. Ein letzter Rest Beständigkeit, den die Buddhisten unterm Bett verstecken.
Da haben wir uns ja was eingebrockt, Beefsteak.
Ich hab’s ja gleich gesagt. Am besten, man fängt erst gar nicht damit an.
Das Leben kann nach dem Tod nicht weitergehen. Es geht nicht. Das wäre lächerlich. Falls ihr mir beweist, dass es weitergeht, bringe ich mich um.
Das würde dann ja auch nichts nützen.
Du bist wirklich ’ne Marke. Der skeptischste Typ, den ich je erlebt habe.
Ich bin nicht skeptisch. Ich glaube nur nicht einfach an irgendwas.
Wenn Gott existieren würde, hätte er seinen Spaß an dir.
Leopoldo hebt die Flasche und muss aufstoßen.
Ein Toast auf den leidenschaftlichen Glauben, dass nichts von all dem hier existiert.
Bonobo und er heben ebenfalls ihre Flaschen. Die drei Flaschenhälse stoßen gegeneinander, und seine Flasche zerspringt, so dass Bier und Glassplitter in alle Richtungen fliegen. Die drei sehen sich regungslos und mit ausgestrecktem Arm an, bis ihnen allmählich klar wird, was gerade passiert ist. Die Flasche hat sich praktisch in Luft aufgelöst, aber das Gefühl, sie in der Hand zu halten, lässt nur langsam nach.
Manchmal sind die Wintertage wie Sommertage, und dieser Montag Anfang September ist einer dieser Tage. Die Wäscheständer sind vollgehängt, und die Matratzen liegen zum Lüften in der Sonne. Wer kann, geht an den Strand. Mitglieder beider Parteien, die sich bei den bevorstehenden Wahlen gegenüberstehen, gehen schon früh am Morgen auf Stimmenfang, bringen ihren Wählern Zementsäcke oder begleichen ausstehende Raten von Motorradkäufen. Bedürftige Kinder bekommen kostenlosen Surfunterricht und lutschen an der Promenade Frühstücksorangen. Er zieht den Neoprenanzug an, lässt die Hündin raus und geht über den Felsen runter ans Wasser. Mit den ersten Schwimmzügen dringt Wasser durch Kragen und Reißverschluss und läuft ihm über Rücken und Bauch. Aber schon nach einigen Sekunden wird es von der eigenen Körperwärme aufgeheizt und legt sich wie ein angenehmer Schutzfilm auf die Haut. Als er kurz Luft holt, sieht er die Hündin zwischen den Fischerbooten durch den Sand humpeln. Erstaunlicherweise hält sie mit ihm mit. Auf der Hauptstraße läuft ein geistig Behinderter mit der Fackel der olympischen Woche langsam neben einem Betreuer her. Der Tross, den er anführt, besteht aus einem Kleinbus mit den anderen Behinderten, die am Staffellauf teilnehmen, und zwei Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht. Sie sind unterwegs nach Paulo Lopes, wo die Fackel weitergereicht wird. An der Praia do Rosa erreicht Bonobo der Anruf einer Freundin, die offenbar in Nöten ist und ihn gern sprechen und, falls möglich, sehen würde. In ihrem Haus in Ferraz telefonierteine Frau über Skype mit ihrem dreizehnjährigen Sohn, der bei seinem Vater in Spanien wohnt und nur im Sommer zu Besuch kommt. Ein Gärtner stolpert in einem Blumenbeet eines Ferienhauses in der Rua dos Flamboyants über den Kadaver eines Hundes, der vor zwei Nächten dort erfroren ist. In einer Gemeinde, die zurückgezogen in den Morros da Encantada nach dem Mayakalender lebt, weint ein Mädchen aus Minas Gerais vor Zahnschmerzen und muss die ganze Zeit daran denken, wie ihr Leben wohl verläuft, falls die Welt nicht wie vorhergesagt im Dezember 2012 untergeht. Er schwimmt weit hinaus und spürt, wie die Dünung stärker wird, je weiter er in die Mitte der Bucht gelangt. Der Neoprenanzug mindert seine Angst vor dem Meer, aber sie ist da und wird größer, sobald er an sie denkt. Er hat das Gefühl, als wollte das Meer etwas von ihm, kann sich aber nicht vorstellen, was. Als gäbe es da etwas, das er vergessen hat, oder von dem er nicht mal weiß, dass er es weiß. Das Meer fragt ihn danach und scheint immer kurz davor, die Geduld zu verlieren, aber er
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