Flut
interessierst.
Hör zu. Ich erkenne wirklich kein Gesicht wieder. Das ist eine Nervenkrankheit.
Sie bleibt stehen und sieht ihn an.
Schau mich an, sagt sie und zeigt auf ihr Gesicht. Siehst du das nicht? Meinen Mund, meine Nase, meine Augen, das alles siehst du nicht?
Sehen tue ich alles. Aber ich kann es mir nicht merken. Mein Gehirn kann es nicht speichern. Der Teil, der für die Erkennung von Gesichtern zuständig ist, funktioniert bei mir nicht. Sobald ich dich aus den Augen verliere, hab ich nach fünf Minuten vergessen, wie du aussiehst, oder nach zehn, oder einer halben Stunde, wenn ich Glück habe. Da kann ich nichts gegen machen.
Davon hab ich noch nie gehört.
Es ist auch sehr selten.
Sie sieht ihn nochmal an und geht dann weiter.
Glaubst du mir?
Du hast gesagt, ich soll dich ernst nehmen, also tue ich dasauch. Aber wenn du dich über mich lustig machst … dann sag es mir lieber jetzt. Gleich ist es zu spät.
Ich meine es ernst.
Die Schuppen sind alle zu. Sie begegnen einem jungen Paar, das ihnen von den Felsen entgegenkommt und auf einem Handy absurd laut elektronische Musik hört.
Du wirst mich also nie wiedererkennen? Wenn ich mit dir reden will, muss ich hinter dir herlaufen und sagen, Hallo, ich bin’s, Dália, erinnerst du dich? Mit den entsprechenden Gesten und allem?
Sie reißt die Augen auf, grinst übertrieben und fuchtelt mit den Händen herum.
Nein, natürlich nicht. Es gibt ja außer dem Gesicht noch vieles anderes. Meistens hilft die Stimme. Und die Umgebung. Ich weiß zum Beispiel, dass du die größte Frau in der Pizzeria bist. Wenn ich dich dort suchen würde, würde ich dich sofort erkennen. Manchmal ist es ein Kleidungsstück, das jemand oft anhat und an das ich mich erinnere. Oder der Gang. Ich muss mir immer überlegen, woran ich jemanden erkennen kann, abgesehen vom Gesicht. Ich präge mir Einzelheiten ein. In deinem Fall waren das die Größe und die Haare. Je länger ich jemanden kenne, desto einfacher erkenne ich ihn wieder. Aber es ist kompliziert. Gestern am Strand zum Beispiel war es so gut wie unmöglich, weil du mit deinem Sohn da warst und ich nicht wusste, dass du einen Sohn hast.
Ich stell ihn dir bei nächster Gelegenheit vor.
Ja, bitte.
Sie kommen an die kleine zerfallene Treppe, er lässt sie vor und zieht dann Beta am Halsband hinter sich her. Der Geruch von Abwasser umgibt die krummen Stufen. Dália läuft ein paar Schritte auf der Stelle.
Ich muss dringend auf Toilette.
Kaum hat er die Tür aufgeschlossen, stürzt sie ins Bad. Er stellt der Hündin Futter und Wasser in die Vorratskammer, holt eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und öffnet die Fensterläden. Dália braucht nicht lange. Er hört die Spülung rauschen, dann geht die Tür auf.
Okay, aber sag mal, wie ist denn das gekommen?
Perinatale Hypoxie.
Ah, nee, klar. Konnte ja nur Periwasweißich sein.
Ich hab bei der Geburt keine Luft bekommen, deswegen ist in meinem Gehirn etwas kaputtgegangen. Ich hab es also von Geburt an.
Gott, wie schrecklich.
Schrecklich nicht. Nur manchmal etwas nervig. Im Allgemeinen weigern sich die Leute zu glauben, dass es so etwas gibt. Kaum jemand reagiert so toll wie du.
Hallo, weißt du, wer ich bin?, fragt sie mit verstellter Stimme, während sie auf ihn zu geht und ihm die Bierdose aus der Hand nimmt. Sag nicht, dass du mich vergessen hast.
Ja, genau so.
Sie lehnt sich neben ihm an die Fensterbank.
Willst du nicht ein bisschen Musik anmachen?
Meine Anlage ist durchgebrannt. Ich wusste nicht, dass hier zweihundertzwanzig Volt sind.
Trottel. Na gut, wir müssen sowieso zu den beiden zurück. Mal sehen, was mit dieser Party ist. Dein Wagen steht an der Tankstelle?
Ja.
Wolltest du ihn waschen lassen?
Ich will ihn verkaufen.
Und wer nimmt mich dann mit?
Er antwortet nicht.
Ehrlich gesagt bin ich zu faul, um auf die Party zu gehen.
Wo ist denn der Vater deines Kindes?
Ein junger Mann mit Baseballkappe und ohne Hemd kommt den Gang entlang, an der Leine einen schnaufenden, weiß-gelben Pitbull mit einem Lächeln wie ein Krokodil. Die beiden laufen die Treppe runter zu den Felsen.
Der ist zurück nach Criciúma. Da kommt er her. Vor ein paar Jahren sind wir zusammen hier hergezogen, aber dann haben wir uns zerstritten, und er ist wieder weg.
Versteht ihr euch?
Ja, ganz gut sogar. Pablo betet ihn an. Zwei Mal im Monat verbringt er ein paar Tage mit John. Wir gehen respektvoll miteinander um. Was zählt, ist Pablo.
Er heißt John?
Ja.
Ist er
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