Flut
Amerikaner?
Nein, aus Criciúma.
Der Mann nimmt den Pitbull von der Leine und wirft eine halbvolle Plastikwasserflasche ins Meer. Der Hund erforscht kurz seine Umgebung und stürzt sich dann hinter seinem Spielzeug her. Der Junge zündet sich eine Zigarette an und sieht dem Hund beim Schwimmen zu.
Zahlt er dir Unterhalt oder so was?
Sie nimmt einen kräftigen Schluck und lacht dann kurz und heftig auf, bevor sie in verächtlichem Ton antwortet.
Der kifft lieber. Nein, ich sollte nicht ungerecht sein. Wenn er kann, gibt er mir hin und wieder ein bisschen Geld. Aber eigentlich hat er keins. Dieser Loser.
Wohnst du allein mit Pablo?
Nein, wir wohnen mit meiner Mutter zusammen. Sie hilft mir. Sie ist zu mir gezogen, nachdem wir uns getrennt haben. Aber sag mal, erkennst du dein eigenes Gesicht im Spiegel?
Ich weiß nicht, ob ich noch weiter darüber reden möchte.
Der Pitbull kommt mit der Flasche im Maul aus dem Wasser. Der Mann reißt sie ihm zwischen den Zähnen raus und wirft sie erneut ein paar Meter weit ins Meer. Der Hund springt hinterher.
Nein, ich erkenne mein Gesicht im Spiegel nicht. Es bringt auch nichts, wenn ich mir ein Foto ansehe. Am nächsten Morgen habe ich es wieder vergessen.
Das muss total irre sein. Du rasierst dich oder schneidest dir die Haare und merkst gar keinen Unterschied?
Nein. Aber meine Mutter sagt immer, dass ich ohne Bart besser aussehe, und ich glaube ihr.
Und kannst du sagen, ob jemand hübsch oder traurig ist oder so?
Ja. Ich muss die Person nur ansehen. Normalerweise weiß ich dann auch, wie sie sich fühlt. Ich kann auch sagen, ob jemand hässlich oder schön ist, oder jung oder alt. Das ist alles ganz normal. Nur das Gesicht selbst vergesse ich. Ich kann mich erinnern, dass du sehr schön warst. Da freue ich mich natürlich, dich wiederzusehen.
Sie stößt ihn mit der Schulter an.
Von wegen erinnern. Du willst mir nur schmeicheln.
Eine Weile verfolgen sie das unermüdliche Training des Pitbulls. Als er sich umdreht, sieht er, dass Beta es sich auf ihrer Decke neben der Eingangstür gemütlich gemacht hat.
Manchmal hab ich das Gefühl, dass der Hund mich beobachtet.
Was?
Nichts, vergiss es.
Wenn ich heute Nacht hierbleiben würde, würdest du mich morgen früh nicht wiedererkennen?
Ehrlich gesagt, nein.
Du bist der einzige Mensch auf der Welt, der eine gute Ausrede dafür hat.
Sie lässt die leere Dose auf der Fensterbank stehen und dreht sich zu ihm um.
Aber meinst du, das wäre wirklich so?
War jedenfalls noch nie anders.
Auch nicht, wenn es eine sehr, sehr schöne Nacht war?
Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen, Dália.
Was wären wir ohne falsche Hoffnungen?
Er wacht auf, ohne die Augen zu öffnen. Er spürt die Wärme, den Geruch und eine deutliche Erinnerung an all das, wofür man weder ein Gesicht braucht noch sehen können muss. Das Gewicht eines Körpers zu fühlen, ist eine seiner Lieblingsempfindungen. Wenn sie sich morgen früh auf ihn setzen würde oder auch erst in einem Jahr, egal, er würde sie wiedererkennen. Und auch die Art, wie sich der Körper bewegt. Wenn er sich mit ihm vereint, wenn er ihn mit beiden Händen festhalten und so all seine Bewegungen aufnehmen kann, absichtliche wie unabsichtliche, sanfte wie grobe, ein- oder mehrmalige, dann ergibt sich daraus ein Bild, das ihm sehr viel mehr über diesen Menschen verrät als jeder visuelle Reiz. Wie er sich zusammenrollt und wieder streckt, wie er um etwas bittet und sich verweigert, wie er sich nähert und entfernt. Sie hat vorspringende Schlüsselbeine, üppige Hüften, mächtige, muskulöse Schenkel. Ihr Haar ist borstig und ihr Schweiß leicht bitter, wie schwacher Kaffee. Der Atem wie Milch mit Zucker. Die Art, wie sie die Zähne benutzt. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers schränkt schöne Frauen in ihren Bewegungen ein. Kleine Momente der Scham und des Rückzugs, die sich nach und nach im immer weniger verbergenden Halbdunkel seines muffigen Zimmers auflösen. Der Rückzug weicht einer leichten Unterwürfigkeit. Eine kaum wahrnehmbare Veränderung. Er wird sich an alles erinnern. Das Licht aus der Küche, das durch die angelehnte Tür ins dunkle Schlafzimmer dringt. Das Zittern in ihren Füßen, als er versucht, ihre Zehen zu küssen. Die Anspannung im ganzen Körper, die lange nicht nachlässt. Sie krallt sich an ihm fest oder ballt die Fäuste und schlägt ihm auf den Rücken. Wenn ihre Hand etwas umfasst, drücken die Fingerspitzen abwechselnd zu, als spielten
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