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Flut

Flut

Titel: Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Galera
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alleine bist. Auch wenn dir das gefällt. Vielleicht hast du ja auch schon einen Haufen Leute kennengelernt und hast eine Freundin, und ich Idiotin mach mir ganz umsonst Sorgen. Ich weiß, dass du kein Kind mehr bist, aber ich mach mir einfach Sorgen, und das lässt mir keine Ruhe.
    Wahrscheinlich hältst du mich für egoistisch, dass ich dir das alles schreibe und damit womöglich mein Gewissen erleichtern will. Aber ich finde, dass du unsere Geschichte immer sehr einseitig gesehen hast. Es ist kompliziert, und früher oder später müssen wir uns damit auseinandersetzen, wenn wir irgendwann Frieden finden wollen.
    Seit euer Vater gestorben ist, geht es Dante nicht besonders gut. Ich glaube, du fehlst ihm jetzt mehr denn je. Das würde er dir gegenüber natürlich nie zugeben. Er wollte dir nicht wehtun, und er hat genauso gelitten wie wir beide. Vielleicht sogar mehr. Du hast mir verziehen. Kannst du inzwischen nicht vielleicht auch ihm verzeihen? Jetzt, nach so langer Zeit und nachdem euer Vater gestorben ist? Ich weiß nicht, wie du heute über all das denkst, aber ich wollte dich zumindest bitten, den Gedanken, ihm zu verzeihen, nicht völlig zu verwerfen. Er spielt den harten Mann, aber ich weiß, wie sehr er sich danach sehnt. Jeder von euch will härter als der andere sein. Denk darüber nach, gib deinem Herzen einen Stoß. Wenn es partout nicht geht, kann man nichts machen. Aber wenn doch … wäre das sicher gut für euch beide.
    Was mich betrifft, ich fühle mich in São Paulo immer wohler. Abgesehen von meiner Arbeit als Kinderbuchlektorin schreibe ich jetzt auch eine kleine Literaturkolumne für die Zeitung. Am meisten vermisse ich Guaíba, diesen Horizont, einen Ort, an dem ich den Blick schweifen lassen kann, wenn ich mich beengt fühle. Für deinen Bruder ist es nicht so einfach, weil er zu Hause arbeitet und das kulturelle Leben in der Stadt für ihn eine ständige Versuchung darstellt. Aber es geht ihm gut, außer, dass er zu viel trinkt, meiner Meinung nach. Er sitzt an einem neuen Buch. Worum es geht, weiß ich nicht. Ich hab ihm vorgeschlagen, über uns zu schreiben, aber er sagt, dass würde er nie tun. Nicht meinetwegen, er weiß, dass es mir nichts ausmachen würde. Es kann also nur deinetwegen sein.
    Hast du Beta wirklich behalten?
    Ich werde nie vergessen, wie du mich deinem Vater vorgestellt hast, weißt du noch? Er hat sich hingestellt wie ein Pfarrer und gesagt: »Junger Mann, junge Frau, die Liebe ist keine einfache Sache und sollte auch nicht als solche behandelt werden. Versucht nur, freundlich miteinander umzugehen. Amen.« Ich denke, am Ende hat er mich gehasst, jedenfalls hat er nie wieder Scherze mit mir gemacht. Wahrscheinlich hielt er mich für eine Hure. Aber ich werde ihn immer in guter Erinnerung behalten.
    Was nicht einfach ist, will ich auch nicht so behandeln. Bis vor Kurzem habe ich davon geträumt, Angelhaken in der Kehle zu haben, und jetzt spüre ich sie auch, wenn ich wach bin. Aber gerade deshalb glaube ich, dass wir unser Möglichstes tun sollten, um uns diese Last zu nehmen. Du fehlst mir. Lass von dir hören. Und pass auf dich auf. Kuss – Viv.

6.
    Die Polizeiwache ist ein flaches, viereckiges Gebäude, umgeben von einem Maschendrahtzaun, daneben steht ein unbemannter grauweißer Polizeiwagen. Es ist fast dunkel, ockerfarbenes Licht dringt durch die Kippfenster. Als er eintritt, erwartet er Chaos und Dreck, aber alles ist sauber und aufgeräumt. Nirgends liegen Papiere herum, die Schränke und Karteikästen scheinen leer und unberührt wie im Schaufenster eines Schreibwarenladens. Plakate von Kampagnen gegen Crack und Gewalt gegen Frauen hängen neben Straßen- und Landkarten. An einem der drei Schreibtische sitzt ein Polizist in khakifarbener Uniform, blickt auf den Bildschirm und fummelt an seiner Maus rum. Er dreht sich um und begrüßt ihn. Der Mann ist groß, schlank und muskulös. Unterkiefer und Ohren sind auffallend groß, der Rest des Kopfes wirkt im Vergleich dazu klein. Er setzt sich ihm gegenüber auf einen Stuhl und erklärt, warum er gekommen ist, dabei zögert er vor jedem Satz.
    Ich bin erst vor Kurzem nach Garopaba gezogen. Ich wohne in einem kleinen Apartment bei den Fischerschuppen, die Vermieterin ist Dona Cecina und … also, es ist nicht so, dass ich einen Vorfall zu melden hätte. Ich bin eher aus Neugier hier, wegen einer Sache, die schon länger zurückliegt. Mein Großvater hat Ende der sechziger Jahre hier gelebt und wurde hier

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