Flut
eine Portion Pommes frites bestellt, kam irgendein Kerl an und wollte ihm welche stehlen. Günther stach ihm seine Gabel durch die Hand, woraufhin der ganze Laden zu ihm rübersah und ihm niemand mehr zu nahe trat. Seitdem hatte er keine Angst mehr.
Als sie feststellen, dass die Polizisten den Jungen inzwischen mit Schlägen traktieren, verzieht Günther entsetzt das Gesicht. Er brüllt sie an, sie sollen aufhören, und da das nichts bewirkt, stürmt er auf sie los, während sie weiter auf den höchstens achtzehn Jahre alten Jungen eintreten, der zusammengekrümmt am Boden liegt und um Verzeihung bittet. Die Gesetzeshüter versuchen, den Gringo ruhigzustellen und gleichzeitig den Dieb an der Flucht zu hindern. Tischefallen um, und auch die Gallone für den Wasserspender geht zu Boden. Er bleibt regungslos inmitten dieses Tohuwabohus sitzen, bis der Deutsche unter Kontrolle gebracht ist. Der Junge sitzt auf dem Boden und hält sich schützend die Hände über den Kopf. Der Polizist mit den großen Ohren scheint überrascht, dass er noch da ist.
Kann ich noch helfen?
Nein. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Einen schönen Abend.
Ach so, doch. Vor ein paar Wochen wurde in Paulo Lopes ein Mädchen ermordet. Mit einem Schnürsenkel erwürgt. Ihr Gesicht war verstümmelt. Wissen Sie, wovon ich rede?
Ja. Der Kerl wurde gefasst.
Tatsächlich? Wer war es?
Ein Nachbar. Den Namen weiß ich nicht mehr. Er sitzt im Gefängnis. Warum?
Ich habe in der Zeitung davon gelesen und mich eben daran erinnert. Hat mich nur interessiert.
Er hat gestanden. Ein Bekannter der Familie. Man hatte ihn schon mit der Tochter zusammen gesehen.
Hat er gesagt, warum er sie so verstümmelt hat?
Offenbar war er in das Mädchen verliebt, und sie wollte nichts von ihm.
Ist der Kerl normal? Oder irgendwie geisteskrank?
Der Polizist sieht aus, als müsse er lachen, und zuckt mit den Schultern.
Er bedankt sich und macht sich mit Hund und Fahrrad auf den Nachhauseweg.
Er schiebt das Fahrrad durch die Straßen um die Lagoa das Capivaras. Das Licht der Straßenlaternen taucht den Teppich aus Schwimmfarnen auf dem verschmutzten Wasser in ein öliges Gelb. Ein Schwarm Moskitos schwebt über einem verrotteten Schuppen. Aus einem verwilderten Grundstück kommt plötzlich eine Meute riesiger Hunde, vorsichtshalber steckt er den Finger in Betas Halsband. Es sind mehrere Rassehunde dabei, Rottweiler, Schäferhunde, sowie Kreuzungen, in denen er Spuren von Collies und Labradors erkennt. Das Fell von Schweiß und Kälte gesträubt, verdreckt und abgemagert, so laufen sie mit heraushängender Zunge ohne erkennbares Ziel durch die Nacht, als würden sie von einem gespenstischen Anführer irregeleitet. Von der Sorte gibt es viele hier. Große Hunde, von Urlaubern ausgesetzt, die Hunderte von Kilometern entfernt leben. Ihre Instinkte scheinen den unerfüllbaren Wunsch, nach Hause zurückzukehren, nicht vollständig verdrängen zu können.
Als er nach Hause kommt, ist die Wohnungstür nicht abgeschlossen, und normalerweise vergisst er das nicht. Von der Eingangstür aus sieht man fast die ganze Wohnung, auf den ersten Blick weist nichts darauf hin, dass jemand hier war. Die Position der Kissen auf den Sofas, die Papiere auf dem Tisch, die Zeitschriften auf dem Küchentresen neben dem schmutzigen Geschirr, nichts ist anders als vorher. Der Neoprenanzug, der mehrere Hundert Reais kostet und für einen Dieb wahrscheinlich am interessantesten wäre, hängt unverändert am Wäscheständer. Die Brieftasche, in der abgesehen von diversen Karten und Papieren vierhundert Dollar und achthundert Reais stecken, liegt nach wie vor unter dem Besteckkasten in einer der Schubladen. Er schließt die Tür von innen ab, lässt die Fensterläden zu, gibt der Hündin zu essen und zu trinken und geht duschen.
Später sitzt er eine Zeit lang auf dem Sofa und blickt auf sein Handy. Er lädt mit einer Karte sein Guthaben auf und wählt eine Nummer.
Gonçalo?
Sein alter Jugendfreund fängt an, die üblichen Fragen zu stellen, von wegen, was ihn geritten habe, so mir nichts, dir nichts ans Meer zu ziehen. Er unterbricht ihn und fragt, ob er noch als Reporter für die Zero Hora arbeite. Dann erzählt er ihm von seinem Anliegen, etwas über den Tod des Großvaters zu erfahren, und berichtet ihm, was er weiß, das Jahr, die Geschichte von dem unaufgeklärten Mord auf dem Fest, die wirren Informationen seines Vaters über seinen Besuch in Garopaba damals.
Ist wirklich alles okay bei dir,
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