Flut
Praia do Rosa. Das Wasser ist blau und trüb, das Avocadogrün der Hügel pulsiert in der Sonne, und der Sand der leeren Strände in der Ferne wirkt vollkommen unberührt. Als das Boot die Praia do Luz erreicht, drosselt Senhor Elias das Tempo, und Toni blickt durch das Fernglas in Richtung Ibiraquera. Es dauert nicht lange, bis Senhor Elias’ erfahrener Blick eine V-förmige Fontäne entdeckt. Die Leute klatschen, und sofort werden alle Arten von Kameras gezückt und scharf gestellt. Während das Boot auf den Wal zufährt, springt weit draußen ein Männchen, was aber nur wenige mitbekommen. Senhor Elias wird jetzt noch langsamer und fährt im Kreis, um sich im bestmöglichen Winkel dem Weibchen zu nähern, das mit der Heckflosse aufs Wasser schlägt.
He, Leute, sie hat ein Junges dabei. Macht keinen Krach und tretet nicht so laut auf. Mal sehen, ob sie auf uns zukommt.
Als sie sich dem Wal bis auf etwa hundert Meter genäherthaben, macht der Kapitän den Motor aus. In regelmäßigen Abständen durchbricht der schwarze Buckel die Wasseroberfläche und verschwindet dann wieder. Muttertier und Junges atmen beinahe synchron aus. Die Fontäne des Jungen ist viel schwächer und klingt eine Oktave höher. Es ist ein säugetierartiger, fast menschlicher Ton. Wie ein tausendfach verstärktes Pusten. Er verspürt eine direkte Verbundenheit mit dem Tier, und er vermutet, dass es den anderen auch so geht. Nur hier und da ist leises Getuschel zu hören. Die Frauen können ein mütterliches Seufzen nicht unterdrücken, und die Euphorie der Kinder ist sprachloser Starre gewichen. Kein Buch hat sie darauf vorbereiten können. Nach einem stürmischen Tauchgang, der mit dem Wedeln der Schwanzflosse endet, kommt der Wal mit dem Kopf Richtung Boot wieder hoch und schwimmt langsam auf sie zu.
Bleibt ganz ruhig, sagt Toni. Sie wird unter dem Boot durchtauchen. Es kann gut sein, dass sie dabei den Kiel streift. Die Hornhaut auf dem Rücken ist typisch für diese Tiere. Die Jungen sind bei der Geburt bereits fünf Meter lang und vier bis fünf Tonnen schwer.
Wirklich wunderschön, dieses Tier, sagt er.
Beeindruckend, oder?, sagt Jasmim. Das ist echt bewegend, wenn die auf einen zukommen.
Ah, Mist, ich habe meine Sprengharpune vergessen, sagt der Typ aus Rio.
Der Wal stößt wenige Meter vom Boot entfernt die Luft aus, und die Touristen seufzen bewundernd auf. Die meisten verfolgen die Szene auf ihren Displays. Die Haut der Mutter ist schwarz, glatt und glänzend wie Vinyl, die des Jungen grau und faltig. Man hat den Eindruck, als würden sie das Boot rammen, aber im letzten Moment tauchen sie ab und unter ihm durch. Das Boot hebt sich ein wenig, einige schreien auf. Das seekranke Mädchen hat sich auf den Boden gelegt und schaut schicksalsergeben in den Himmel. Einige Touristen steigen über sie hinweg, als sie den Walen folgen undgeschlossen auf die andere Seite wechseln. Eine glatte Fläche erhebt sich aus dem Wasser. Dann verabschieden sich die beiden.
Anderthalb Jahrhunderte lang wurden sie abgeschlachtet, und trotzdem kommen sie immer wieder auf die Menschen zu, sagt Jasmim. Keinerlei Verteidigungsinstinkt, keine Erinnerung, kein Groll. Ich finde es unglaublich, dass sie so nah an den Strand kommen, um ihre Jungen zu kriegen. Letztes Jahr waren sie in Garopaba ganz dicht am Ufer. Die Jungen müssen über Wasser atmen lernen. Das Verrückte ist ja, dass es keine Fische, sondern Säugetiere sind. Wenn sie so herankommen und dann atmen, kann ich ihre Lungen spüren. Da läuft mir ein Schauer über den Rücken. Landtiere, die ins Wasser zurückgekehrt sind. Hast du schon mal ein Walfischskelett gesehen? Die haben Knochen in den Flossen. Wie Hände und Finger. Ich frage mich, ob die Tatsache, dass sie immer wieder hierherkommen, nicht etwas mit Nostalgie zu tun hat. Die Sehnsucht nach dem Land. Stell dir mal so einen Wal vor, im flachen Wasser, ganz nah an der Küste. Was fühlt der wohl? Vielleicht sieht er die Grenze zu einer fremden, lebensbedrohlichen Welt, so beängstigend wie für uns das Meer. Aber vielleicht ist es auch wie nach Hause zu kommen. Zurück in den Mutterleib. Eine Versuchung. Am Ende ist das der Grund dafür, dass sie manchmal ohne ersichtlichen Grund stranden. Weil das Meer unendlich ist. Das ist ja das Erschreckende. Es ist das Gegenteil vom Mutterleib. Ich glaube, das ist es, wovor die Wale Angst haben.
Ich weiß, wer das ist, sagt Bonobo. Eine Schwarze, mit einer Stimme wie eine Sängerin. Sie war
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