Flutgrab
und stöhnte, als er sie unter dem kalten Leib wegziehen musste. Der Tod wog schwer. Auch bei einem so kleinen Körper. Bevor er sich der Kinderleiche annahm, studierte er erst die Kleiderfetzen. Alles war besser, als diesen jungen Leib aufzuschneiden. Kerkring, dachte er, du hast Unrecht. Ich tue es, weil ich neugierig bin, ja. Aber ich tue es, weil es dem Jungen nicht mehr wehtut – und er nur so den anderen Kindern helfen kann. Obwohl Rungholt die Fetzen eingehend studierte, konnte er lediglich einige Blutspritzer auf Höhe des Oberschenkels und am Bauch erkennen. Der Stoff zeigte keinerlei Einstiche oder Schwerthiebe, und der Junge trug ebenfalls keine tödlichen Verletzungen. Genau, wie er es schon im Turm festgestellt hatte.
»Ist das dein Blut? Hm … Du sagst nichts, liegst nur da …«, sprach Rungholt mit sich selbst, um jedenfalls einen Menschen in dieser wasserkalten, totenstillen Kammer zu hören.
Die Kleider halfen nicht weiter. Er warf sie – bis auf ein paar Fetzen, die er als Lappen gebrauchen wollte – zum Feuer.
Einen Moment stand er da und betrachtete den Jungen, sah sich das Fackellicht auf seinen eingefallenen Wangen an. Dann gab er sich einen Ruck, packte das nackte Kind und rollte es auf den Bauch. Auch auf dem Rücken konnte er Kratzspuren erkennen. Überall, wo der Junge sich kratzen konnte, hatte er sich die Haut wundgerieben. Die merkwürdigen Flohbisse ohne Einstich waren bloß undeutlich zu erkennen.
Irgendetwas hatte ihn tausendfach heimgesucht, war unter seine Haut gekrochen und hatte das Gewebe zerstört. Quaddeln, juckender Ausschlag.
»Eine Krankheit? Hmmm … Gut möglich. Oder Gift?«
Rungholt fuhr den Rücken ab, ließ die Öllampe wandern. Große Leichenflecke hatten sein Gesäß, die Schultern und Partien des Rückens verfärbt. Die Leichenstarre war weniger weit fortgeschritten als bei Peterchen. Als er die Kinderbeine bewegte, hörte er ein seltsames Knarzen … Rungholt bewegte die Beine ein zweites Mal, kam mit dem Ohr näher. Nein, es klang eher wie ein Knistern. Als würde, ganz leise und kaum wahrnehmbar, nasses Stroh in einer Glut verbrennen. Auch die Knie gaben das eigentümliche Geräusch von sich.
Rungholt schätzte, dass der Junge am Morgen verstorben war. Frühestens gestern Abend.
Er nahm sich die Fingernägel vor, griff unter seine Garnache und wollte seine Brille … Wo immer sie war, wahrscheinlich hatte die Flut sie längst den Lübecker Hügel hinab in die Trave und weiter ins Meer gerissen. »Verfluchter Pomuchelskopp«, knurrend suchte er sich einen Lesestein aus seinem Schreibtisch und legte ihn auf den ersten Finger. Nichts. Da war Dreck, ein wenig getrocknetes Blut, wohl vom Kratzen. Aber kein Muschelschlamm – unter keinem der Nägel. Bloß ein paar Wachsreste und am rechten Zeigefinger Spuren von Mus.
Dafür entdeckte er, wie er schon vermutet hatte, die feinen Striche am rechten Unterarm. Sie saßen an derselben Stelle wie bei Agnes und Peterchen und waren, weil dieser Körper eher bleich war, gut zu erkennen.
Rungholt drehte den Jungen wieder auf den Rücken und tastete den Bauch, die Brust und den Hals ab. Außer den merkwürdigen Flohstichen konnte er nichts feststellen. »Keine Stichwunden. Kein Schlag mit einem Gegenstand«, murmelte er und fuhr dem Kind durch die dichten Haare. Da war nichts. Keine Schramme. »Woran bist du gestorben?«, flüsterte er und wünschte sich, er hätte sein Buch mitgebracht. Abulcasis’ Medicusbuch mit detailreichen Zeichnungen von Toten, das er gerne zu Rate zog.
Er sah dem Kind in die Augen.
Wenn sie dich zu lange ansehen, die Toten, nehmen sie dich hinab ins Meer und stehlen dir deine Seele.
Rungholt musste seinen Blick abwenden. Er rieb sich die Augen. Die Müdigkeit kehrte zurück, doch er nahm sich vor, erst ins Bett zu gehen, wenn er wusste, wie Gryps das Kind entleibt hatte.
Es half alles nichts, er würde den Jungen aufschneiden müssen. Bier, schoss es ihm durch den Kopf. Ich brauche Bier. Jede Menge davon, um das hier durchzustehen. Was für ein Wink des Herrn, dass ich ihn ausgerechnet an die Quelle gebracht habe.
Er holte sich ein kleines Starkbierfass, warf ein paar der nassen Brennhölzer an den Tisch und stellte das Fass obendrauf.
Geübt stach er das Fass an und ließ sich eine Kanne volllaufen. Der Geschmack tat gut, vertrieb für einen Moment die Gedanken an Messer, Fleisch und Kinder.
Er trank noch zwei Kannen, bevor er die Gnippe am Bauch ansetzte. Wegen seiner verletzten
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