Flutgrab
trauen sich nicht rein. Sie haben’s gestern gelöscht. Hatten wohl Angst, das Feuer springt über …« Der alte Fiskal hielt ihm ein Tuch hin, damit er sich die Nase bedecken konnte, bevor er den Scheiterhaufen aus Balken, Brettern und wenigen Habseligkeiten betrat, der den Geruch von kalter Asche verströmte. Der Regen hatte alle Glut erstickt.
»Und?« Peinlich darauf bedacht, sich nicht an den Überresten der verkohlten Tür dreckig zu machen, trat Kerkring, schwer auf seinen Stock gestützt, ein.
Wie vom Blitz geschlagen sah er sich in dem schwarzen Asche-Inferno um, achtete kaum auf die Erklärungen seines Fiskals, der bereits dabei war, sich sein tragbares Schreibpult umzuschnallen.
»Sie behaupten, eine Hexe habe hier gewohnt, und die wolle sie alle verfluchen. In der Nacht haben sie Schreie gehört.«
»Hexe?«
»Eine Töversche. Sie haben’s gelöscht, aber niemand hat sich bisher reingetraut.«
Kerkring nickte und tat, als wären dies alles Neuigkeiten. »Ist ja auch kaum was da, in das man sich trauen kann«, sagte er und versuchte, sich keine Schwermut anmerken zu lassen. Bereits die Wahmstraße hinauf hatte er das Schlimmste befürchtet. Er hatte schon gestern gehört, dass es im Wulffsgang gebrannt hatte, aber bisher keine Zeit gefunden, sich den Hof anzusehen. Sein ungutes Gefühl war zur Gewissheit geworden, als er nur noch den Eichenstumpf schwarz und stumm aus dem Bretterberg hatte ragen sehen. Wie ein See dunkler Tränen war ihm im Hof das Gemisch aus Asche und Regen entgegengesickert.
Seufzend wies Kerkring drei Büttel an, ihm den Weg frei zu räumen und nach Leichen Ausschau zu halten. Er selbst hielt sich zurück, sah fassungslos zu, wie die Männer Stücke des verkohlten Daches zur Seite schoben und mit ihren Spaten Bretter und vor Hitze gesprungene Grapen freilegten.
Kerkring hätte nie gedacht, dass die zerstörte Hütte ihn so treffen würde. Es war wie ein Stich ins Herz. Nicht weil er die Alte gemocht hatte – Gott bewahre! Am liebsten hätte er das Ketzerweib auf dem Köpfelberg verbrannt, aber gute Dienste hatte sie ihm stets geleistet.
Kerkring trauerte nicht um die Töversche. Er trauerte um sich selbst. Er trauerte, weil ihm die Möglichkeit genommen worden war, in die Zukunft zu sehen. Irgendjemand hatte getan, was man mit Hexen tun musste, und damit Kerkrings drittes Auge ausgestochen. Die Knochenfrau … Sie war … seine Hexe . Sein Auge, sein Mann im Krähennest, der ihm durch den Nebel der kommenden Tage half.
»Hier … hier ist jemand!« Einer der Büttel stieß die Überreste eines Balkens beiseite, packte das schwere Stück schwarzer Kohle und warf es in die Ecke. Während die anderen Büttel und der Fiskal sofort hinübereilten, blieb Kerkring stehen. Er brauchte noch einen Moment, bevor er der Wahrheit ins verbrannte Gesicht sehen konnte. Kaum merklich bekreuzigte er sich, wobei er seine rußigen Finger unabsichtlich in seiner Schecke rieb.
Zögerlich, das Tuch vor die Nase gepresst, mit dem Stock in den Trümmern Halt suchend, trat er näher. Sein Blick glitt über den schwarzen Boden, über die schwarzen Pfützen, über das schwarze Holz, über die schwarzen Schalen und schließlich über die schwarze Knochenfrau. Ihr Fleisch war kaum von den Überresten zu unterscheiden. Ein Stück ihrer Mi-Parti-Beinlinge leuchtete dreckig, aber farbenfroh. Aus irgendeinem Grund hatten die Flammen es verschont.
»Helft mir. Helft mir mal.«
Der Fiskal sah Kerkring abschätzig an. »Ihr wollt Euch in den Dreck …?«
Kerkring nickte. Er wusste, dass es ungewöhnlich war, aber er musste niederknien. Der hühnerbrüstige Mann reichte ihm die Hand, und Kerkring sank langsam neben die verkohlten Überreste der Frau. Er zögerte, sie zu berühren. Er hatte dies noch nie getan, hatte stets nur ihren Worten gelauscht. Ihre brüchigen Lippen angesehen, wie sie Weisheit sprachen. Tiefe Erkenntnisse, die ihm nun für immer verschlossen bleiben sollten. Es ekelte ihn, ihren schmalen, knöchernen Kopf anzuheben. Er benutzte das Tuch, um sie anzufassen. Sie war ganz trocken, Fett und Fleisch zu einer harten Schwarte geworden. Ihre Augen fehlten gänzlich.
Sanft drehte er ihren Schädel zur Seite, als würde er eines seiner Kinder abends in den Alkoven betten. Hermann Kerkring erwischte sich dabei, wie seine Augen feucht wurden. Wie sollte er jetzt jemals den richtigen Weg finden? Wie sollte er wissen, wer Freund war? Wer Feind? Wie sollte er aus diesem dunklen Wald gelangen, der
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