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Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meister Derek
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es stets versucht – und war kläglich gescheitert. Einen Moment blieb Rungholt im Regen stehen, spürte den Sog des Wassers, das die Engelsgrube hinabfloss und seine Knöchel umströmte, und dachte: Welches Böse? Welches Recht? Wessen Recht?
    Das Böse vermeide und achte das Recht.
    Was, wenn das Böse der gute Weg war? Und das Recht vom Bösen gemacht wurde?
    Verkehrte Welt. Wrasenwelt.
    Rungholt wurde schlecht. Eine unbestimmte Hoffnung ließ ihn gen Himmel blicken. Vielleicht würde ihm dort ein klares Bild von Lübeck erscheinen, würden die Gassen um ihn herum sich auflösen, zu bloßen Nebelschwaden, zu Wolken werden. Vielleicht würde er aufwachen. Ja. Erwachen. In seinem Bett. In seinem Haus. Mit seiner Frau. In seinem Leben.
    Er sah in den Himmel und wurde enttäuscht. Keine Wrasengassen, Türme, Häuser – bloß eine einzige Wolke von Horizont zu Horizont, ein einziges Erbsenmusgrau umspannte seine Welt.
    Dies war kein Traum, und es gab kein Erwachen.
    Rungholt legte die Hand auf seinen Eisensperling. Der Türklopfer fühlte sich angenehm kühl an. Durch die Jahrzehnte war sein Schnabel stumpf geworden, und er blickte mürrisch drein. Rungholt hätte ihn am liebsten niemals mehr losgelassen.
    Er brauchte einen Moment, bevor er bereit war, die Tür aufzudrücken. Er tat es sanft, als betrete er einen geheimen Raum, als wolle er niemand wecken.
    Die gewohnte kühle Luft, der Geruch der Holzmöbel, der Feuerstelle, Hirsebrei mit Erbsen. Was gab es Köstlicheres.
    Er trat ein, und schon der erste Schritt zerriss das vertraute Bild. Das Klacken seiner Trippen auf den Dielenfliesen hallte ungewohnt kalt wider. Ein weiterer Schritt, und Rungholt spürte, wie ihm das Blut wegsackte. Die Säfte dann einfach ruhten – am Grund. Flaute.
    Die Diele war leer. Nicht nur der zerstörte Wagen war über die Gotlandfliesen gezogen worden und hatte tiefe Kratzspuren hinterlassen – nein, alles war fort. Der große Tisch, sein Lieblingsstuhl, die Grapen, Schürhaken, die Fässer, die Regale, die Holzdauben, die Glasphiolen, Schalen und Teller. Der Stoff von den Wänden, die Kiste, Alheyds Truhe, auf die sich Hilde gesetzt hatte, die geölte Ablage mit den Pergamenten und kostbaren Tranlampen. Alles fort. Alles verpackt und jenseits seines Lebens in ein Lager verbracht. Gott weiß, wohin. In d’ Alighieris purgiertes Hirschtalgherz.
    Als hätte Wiesberg ihm Fäden in die Glieder genäht und der Florenzer höchstpersönlich zöge daran, taumelte er matt in sein Haus. Klack, klack, klack …
    Sein Blick traf die Wandmalereien, die er zu Mirkes Hochzeit hatte anfertigen lassen und vor denen er gestern mit Gryps im Arm gesessen hatte, und wanderte weiter zu den leeren Wänden, zu einsamen Haken, an denen früher Alheyds Töpfe hingen. Er glitt empor zur Klappe. Sie stand offen. Von hier unten konnte er bis hinauf auf den obersten Dachboden sehen, erblickte den Flaschenzug am First. Der Haken schwang kaum merklich hin und her. Sein feines Klirren erfüllte die Leere wie ein kalter Windzug.
    Geh nicht in die Scrivekamere, dachte Rungholt. Tu dir das nicht an. Sie wird nackt sein, und du wirst frösteln. Ob sie sein Fach entdeckt hatten? Er wollte sich schon zur Dornse umdrehen, als er im schwarzen Schlund über sich etwas sah.
    Erst war es am Haken, dann ein wenig darunter, es schien zu schweben und keinen Körper zu haben. Dennoch leuchtete es matt.
    Dieses Sandkörnchen von Licht strebte auf ihn zu. Es fiel durch den obersten Dachboden, den zweiten, den ersten und erreichte die Klappe zur Diele. Es wiegte sich sanft hin und her, brauchte ewig, um die sechs Klafter vom First herunterzuschweben. Kaum war es in der Diele angelangt, erkannte Rungholt, was es war.
    Eine verlorene Schneeflocke.
    Sie schwebte lautlos, trieb von rechts nach links, tanzte sanft in den kaum spürbaren Luftzug, wurde ein Stück hochgezogen, umkreiste ihn in einem Reigen, zitterte und landete schließlich exakt in der Mitte der vom Armbrustbolzen zerschlagenen Gotlandfliese.
    Eine Flocke, so groß wie ein Brillenglas. Eine Flocke, so rein wie Marleins Seele.
    Eine Flocke, kälter als die Daugava.
    Jetzt musst du bezahlen.
    Rungholt starrte sie an, reckte sich und betrachtete sie an seinem Bauch vorbei, in der kuriosen Hoffnung, die Flocke möge wie sein Rotrücken erneut flattern und abheben und in den Himmel fliegen.
    Husch. Husch. Die Flocke schmolz. Ihre filigranen Sternchenarme brachen auf, splitterten und wurden zu Wasser.
    Überall war nun Wasser.

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