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Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meister Derek
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In der ganzen Diele. Nicht sehr tief, einen Fingerbreit. War es unter der Haustür hindurchgeflossen? Bevor Rungholt sich umsehen konnte, stoben alle Türen auf. Sie flogen beinahe aus den Angeln, so stark drängte der Schnee ins Haus. Durch die Haustür, die Tür zur Dornse, die vom Hinterhof. Der Schnee wirbelte bereits um ihn, hüllte ihn ein, trieb im Sturm heran, von oben, unten, von rechts, von links. Eine Wand aus Weiß.
    Weißer Schnee blutet.
    Vergossenes Blut trocknet nie.
    Er wollte etwas sagen, aber über seine Lippen kam kein Wort. Er starrte seine Hand an. Die Handfläche zerschnitten, der Rücken vernarbt. Er wollte etwas sagen. Er wusste nur nicht, wie man sprach.
    »Ich …«, kroch aus seiner Seele. Ein gehauchtes letztes Ich . Dann fiel er. Stürzte zur Seite in den Schnee, wo keiner mehr war.
    Sein Kopf knallte auf die Gotlandfliesen, sein schwerer Dickschädel. Du Klotz. Das Einzige an ihm, was nicht mit Fett umschlossen war. Ein Knacken, Haut riss. Blut sammelte sich in seinem linken Ohr. Doch im Schnee liegend, nahe der Daugava, am See hinter der Scheune, jene Scheune am Waldrand, jener Waldrand an der Orge, hörte er nichts und sah er nur Irena. Er bekam von allem nichts mehr mit. Alles war fern.
    Leben war fern.
    Rungholt.

44
    Sein Schädel schmerzte. Rungholt versuchte, den Schnee wegzuschlagen, der ihm kühl und feucht im Gesicht lag. Es wollte nicht gelingen.
    Butterfass, waberte ein erster Gedanke durch die Schwärze. Ich bin aufs Butterfass gefallen. Jetzt wache ich auf. Es war nur ein Traum, de Kraih war niemals hier. Mein Haus niemals leer, meine Frau niemals fort. Er wollte seine Augen öffnen – es gelang nicht. Die Lider waren einfach zu schwer.
    Kurz darauf, Stunden später – Tage? – hörte er Sinje nach ihm rufen. Eine Daube wurde an seine Seite gestellt. Er roch Mus, aber als er die Augen aufschlug, war die Schüssel fort.
    Aus dem schummrigen Licht tauchten Hasen auf, nein – ihre Felle. Sie baumelten mit getrockneten Kräutern unter den Deckenbalken einer Holzhütte. Feuer knisterte, Wasser plätscherte.
    Der Regen, dachte er und wandte seinen Kopf zur Seite. Im Schein der Feuerstelle konnte er Sinje sehen. Ihr nackter Leib war in glusames Licht getaucht, das eine Sanftheit auf ihr Antlitz zauberte, die Rungholt betörte. Sinjes schwere Brüste wippten leicht, als sie sich eine weitere Kelle voll Wasser über den Rücken goss. Es floss ihre Haut hinab, perlte an ihren Hüften entlang und lief glitzernd über ihre Beine. Sie hatte sich zu drei Vierteln von ihm abgewandt, dennoch sah er ihren begehrenswerten Leib nicht nur von hinten. Sie spiegelte sich wundervoll in den Grapen und polierten Zinntellern. Ihr Schamhaar war rot. Oder war es der Fackelschein?
    Rungholts Kopf fiel zurück ins Strohkissen. Wie spät war es? War der Tag bereits vorüber?
    Er wollte an Alheyd denken, aber es gelang ihm nicht. Stattdessen saß er wenig später nackt in seiner kalten Scrivekamere, hockte auf seinem Schreibtisch wie ein Rabe und sah dem schwarzen Wasser zu, das aus dem Boden sprudelte und höher und höher stieg. Zügig benetzte es seine Schnabelschuhe, die er abgestreift hatte, griff sich die Gewürzsäckchen, dann überspülte es seinen Stuhl mit dem bärtigen Männerkopf und schließlich alle Feinwaagen, die Gewichte und Pergamente. Das Rechentuch schwamm davon. Rungholt hockte, den Hintern auf seinen Unterschenkeln, die Arme vor der Brust verschränkt, auf seinem Schreibtisch, wie er seit Jahren nicht mehr dagesessen hatte. Seine Leibesfülle ließ es nicht zu. Hier im Wrasenland konnte er jedoch alles tun. Er starrte auf das Wasser. Es stieg langsam und floss wie schummeriges Quecksilber über die Arbeitsplatte und um seine nackten Zehen. Unter dem Silber war das Wasser schwarz. Und in der Schwärze glommen Kinderaugen. Erst ein einziges Paar, dann zwei, fünf, sechs. Sie starrten ihn von da unten aus an, glitten ohne Körper um seinen Tisch und glotzten stumm.
    Sie sagten ihm nichts.
    Obwohl er wusste, dass Augen sprechen konnten.
    »Ein wunderschönes Haus.«
    »Und warum bist du dann nicht dort?« Marek zerstampfte ein paar Eicheln und warf den Brei zu einer Handvoll Erbsen. Rungholt setzte sich auf. Er fühlte sich seit langem zum ersten Mal ausgeschlafen. Die Gaze, die seine Gedanken die letzte Woche über umhüllt hatte, war zerrissen.
    Schwüle Nachmittagsluft hing in der Hütte, aber er schwitzte nicht. Marek hatte ihn gefunden und zu Sinje gebracht, die seine Hand

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