Flutgrab
aushungern. Böse Runen auf Kinderknochen. Wilde Männer, die Kinder verschleppen. Ein toter Freund im Wald bei Schwartau. Es würgte ihn.
Er musste endlich schlafen.
Eine Entschuldigung murmelnd, reichte er seine Enkelin an Mirke und stand auf. Matt und als würde ihn jemand wie eine Marionette lenken, fand er sich wenig später in seinem feuchten Bett wieder. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich auszuziehen, hatte nur die Schuhe abgestreift. Zusammengerollt wie ein Säugling lag er da. Marek. Er hatte ihn ins Ungewisse geschickt. Wie hatte er nur eine Wasserratte auf Landfahrt schicken können? In diesen Tagen. Sein bester Freund, der neunmalkluge, die Witten liebende dänische Kapitän – von den Waldmännern gefressen.
Gott forderte ihn auf zu bezahlen. Rungholt zog sich die Decke über den Kopf.
Er weinte. Die Zähne zusammengebissen, keinen Ton von sich gebend, liefen ihm die Tränen über die Wangen und tränkten sein Strohkissen.
10
In seiner Scrivekamere zog er den Genever aus seinem geheimen Fach in der Nussbaumverkleidung und goss sich einen Tonbecher voll. Hinter einem losen Brett hatte sein Mentor und Ziehvater Nyebur schon vor einem halben Jahrhundert Platz für einige Kannen voller Schnaps, für wichtige Papiere und Geld geschaffen.
Rungholt schob Gallbergs Tonbecherchen, das er sich eine ganze Zeitlang ohne neue Erkenntnis angesehen hatte, beiseite. Soweit er wusste, gab es nicht viele Tannen in Lübeck, und was der seltsam glitzernde Sand zu bedeuten hatte? Vielleicht ein seltenes Pulver? Rungholt hatte von einem Pulver gehört, das Eisenkugeln aus Rohren verschießen konnte. Es sollte Steine spalten können, und angeblich wurde es Besessenen im Beutelchen um den Hals gebunden, um sie mit einem Feuerball zu reinigen und zu enthaupten.
Rungholts Augen brannten. Er hatte das Gefühl, eine Woche nicht geschlafen zu haben. Dabei hatte er sich wie ein Kind in den Schlaf geweint. Nun war es mitten in der Nacht, und eine innere Unruhe hatte ihn aus dem Bett getrieben. Irgendwie musste er sich ablenken – vom Ärger mit seiner Frau, vom Ärger mit d’ Alighieri und vor allem von der Trauer um Marek. Contz und die beiden Gesellen, die er in den Wald geschickt hatte, waren noch immer ohne eine Spur. In einem Ort nahe Stockelsdorf hatten sie eine Gruppe Wegelagerer aufgemischt, aber keinerlei Waren gefunden, geschweige denn Marek und seine Männer.
Rungholt trank einen zweiten Becher und starrte auf die mit Schweineblase bespannten Fenster. Das Getrommel des Regens wühlte ihn auf. Sollte er abermals auf den Dachboden gehen? Lieber in den Keller schauen? Wie war es um den Hinterhof bestellt? Hatte Contz wirklich dafür gesorgt, dass das Wasser in die Engelsgrube abfließen konnte?
Bevor er eine Tranlampe holte und sich den Schädel vornahm, stürzte er noch einen dritten Becher Genever hinunter – ohne Wirkung.
Er ließ seine Fingerkuppen über die Runen gleiten. Wie schon am Morgen konnte er die Rillen spüren. Eigenartigerweise kamen ihm die Zeichen kälter als der restliche Knochen vor. »Sei nicht abergläubisch«, fuhr er sich selbst an und grübelte, was der Schädel zu bedeuten hatte. War dies der Schädel eines der verschwundenen Kinder?
Ein Segensspruch war es sicherlich nicht, der dem Kleinen auf die Stirn geritzt worden war. Ein Fluch? Gegen wen? Rungholt schüttelte sich und trank lieber noch einen Schluck.
Mit einem Fetzen Jungfernpergament und einem Stück verkohltem Holz aus Alheyds Kochecke pauste er die Runen ab. Dann legte er das Blatt auf eine seiner Wachstafeln, fuhr die Zeichen mit seinem Fischgriffel genau ab und übertrug sie so auf seine Tafel.
Einen Moment haderte er, die Zeichen so nah am Körper bei sich zu tragen. Er musste herausfinden, was sie sagten. Nur wie? Bloß Töversche und Irre meinten, Runen deuten zu können. Sie stammten aus einer dunklen Zeit. Viele ehrbare Männer behaupteten, eine Kraft ginge von ihnen aus. Eine ganz andere Kraft, als der dicke Jakobus seiner Bibel zuschrieb. Symbole, Haken und Linien waren das, die böse Wesen heraufbeschwören konnten. Wesen, die sich den Christen in den Weg gestellt hatten, als jene dies Land hier oben an der Ostsee missionieren wollten.
»Du hast zu viel getrunken«, brummte Rungholt. »Seit wann glaubst du solchen Schnack? Steck deinen dummen Schädel in wichtigere Angelegenheiten, tritt deinen Bütteln in den Arsch, dass sie Mareks Leiche finden. Und hol diesem Wittenfresser d’ Alighieri endlich
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