Flutgrab
Jahren hinterlassen hatte. Die Hand war rot und geschwollen, die Haut rissig. Zu viel Regen, zu viel Aufregung und vor allem viel zu viele schlechte Nachrichten. Rungholt sehnte sich nach Alheyds Stutenmilchsalbe, während er dem Bürgermeister über den Bauhof folgte.
Geh, warnte eine Stimme in ihm. Renn fort. Du hast ein zu weiches Herz, du Klotz. Tu dir selbst einen Gefallen und dreh um. Du willst doch gar nicht sehen, was Dartzow dir zeigen möchte. Was gehen dich diese Kinder an? Du hast einen anderen Auftrag.
Der Platz für Steine, Kies und Sand lag verlassen in der Morgendämmerung. Zumindest nahm Rungholt an, dass es bereits dämmerte, denn er konnte zwischen den bleiernen Regenwolken hier und da einen helleren Streifen Grau ausmachen. Dass er heute die Sonne zu Gesicht bekommen würde, bezweifelte er. Sie würden weiter durch den Regen waten müssen.
Am Ende des Bauhofs quetschte er sich zwischen den losen Pfählen eines morschen Zauns hindurch und folgte Dartzow an einer Ruine vorbei.
Die Kannengießerei war vor Jahren aufgegeben worden. Ihre Fugen waren so stark ausgesandet, dass in jeder Ritze Gras und dürre Birken sprossen. Ein Schandfleck für das Marienquartier, aber anscheinend hatte niemand Interesse an dem Grundstück gezeigt – oder die Besitzverhältnisse waren zu kompliziert für einen Verkauf. Wahrscheinlich traf Letzteres zu.
Sie umrundeten die Kannengießerei und gelangten auf einen Hof, der kaum größer als die Decks zweier Koggen war. Ein in die Jahre gekommenes Haus und eine unübersichtliche Anordnung von Backsteinmauern versperrte Rungholt die Sicht auf weitere Gänge und Höfe. Aber dass etwas geschehen war, sah er mit einem Blick: Hübsch aufgeteilt in ehrbare Männer und niederes Volk standen leise diskutierend nicht weniger als eine Handvoll Ratsmitglieder, zwei Quacksalber und sechs Büttel trotz des Regens vor einem Kellereingang herum.
Dartzow begrüßte die Ratsmitglieder stumm, indem er ihnen zunickte, bevor er an ihnen vorbei- und die schiefen Holzbohlen hinabging. Der Geruch von Erde und Holz schlug ihnen entgegen. Der Abgang stand voll Wasser. Noch immer strömte es über die Stufen herein und sammelte sich vor einer massiven Brettertür. Ein Fliegenschwarm hatte sich auf die Hölzer gesetzt und krabbelte in einem wirren Tanz herum.
»Bereit?«, fragte Dartzow bang.
Sonst hättest du Ligawyi wohl nicht geholt.
»So schlimm?«, fragte Rungholt und sah sich noch einmal zu den Wartenden um. Sie alle senkten betreten die Köpfe.
Dartzow nickte stumm.
»Wer ist schon bereit?«, brummte Rungholt und musste vom Genever aufstoßen. »Geht rein, dann sehe ich, ob ich bereit bin … Wofür auch immer.«
Bevor der Bürgermeister den Türgriff packte, zog er sein Seidentaschentuch aus dem Gürtel und hielt es sich vor Mund und Nase.
Rungholt wunderte sich, dass er nicht einem der Büttel die Aufgabe überließ, sondern selbst ins Wasser hinabgestiegen war und nun mit aller Kraft an der Tür zog.
Das wurmstichige Holzblatt glitt quietschend zur Seite. Sofort strömte das Wasser nach innen und verteilte sich in einem kaum schulterbreiten Durchgang. Rungholt wäre beinahe in den Bürgermeister gerannt, als der mit gesenktem Blick einfach stehen blieb.
»Da drüben. Da ist es passiert.« Er nickte zu einer weiteren Tür, die angelehnt war. Rungholt schob sich in den Keller. Hier unten war es kalt. Das einströmende Wasser und die Erde ringsum hatten die Räume stark abgekühlt. Langsam ging er am Bürgermeister vorbei. Dabei sah er, dass der Mann Tränen in den Augen hatte.
Rungholt atmete flach, hatte bisher aber keinen Leichengestank festgestellt. Übertrieb Dartzow?
Seine Pranke legte sich auf das Türholz. Er holte noch einmal Luft. In seinem Rücken hörte er Getuschel. Einige der Ratsmänner tapsten zögerlich die Treppe in den Keller hinab. »Der Teufel … Gewütet … Abscheulich … Wir sollten das Haus abbrennen … Wieso kommt er zurück und dann das?«
Die Worte ergaben für Rungholt keinen Sinn.
Er stieß die Tür auf und stand in einem gepflegten Schlafgemach. Aufgeräumte Truhen, hübsch abgedeckt mit gehäkelten Deckchen, ein massiger Holzschrank und ein frisch bezogenes, breites Bett. Daran war nichts Ungewöhnliches. Vermieteten doch viele Handwerksmeister und Kaufleute ihre Lager als Wohnraum. Gesellen oder Tagelöhner hausten oft in den winzigen Kellern.
Das Wasser hatte den Raum knöcheltief geflutet.
Doch das Wasser war nicht das Einzige, was den
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