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Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meister Derek
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Eindruck von Gemütlichkeit zerstörte.
    Es war das viele Blut.
    Und die Leichen.
    Die vier Leichen.
    Der Anblick war so verstörend, dass Rungholt schon im ersten Moment wusste, er würde davon träumen. Vielleicht nicht diese Nacht, vielleicht nicht nächste – aber er wusste, dass diese Toten wiederkommen würden.
    Manchmal hatte er das Gefühl, sein Schädel wäre ein dunkles Haus, komplizierter und verschachtelter als das Bankhaus von d’ Alighieri. In diesem Haus schuf er mit jedem Fall, den er übernahm, eine weitere Kammer. Doch an Stelle von Pelzstapeln und Säcken voller Gewürze saßen, lagen und hingen dort in seinen dunklen Räumen all die Toten. Sie saßen im Dunkeln, wollten einfach nicht schlafen, sondern regten sich raschelnd und raunten einander Worte zu, die Rungholt nicht verstand. Nur zu oft sah er sie leben, sah sie flüstern und glotzen, seine Toten.
    Wenn ich noch mehr Tote sehen muss, dachte er grimmig, platzt mein Schädel aus allen Nähten.
    Er sah sich nach Dartzow um. Der Bürgermeister wurde inzwischen von einem der Quacksalber gestützt. Es war Wiesberg. Rungholt hatte ihn draußen gar nicht erkannt. Sie alle waren durchnässt und zitterten. Das Getuschel der Männer erfüllte nun den Keller wie das Klagelied alter Weiber. »So habt Ihr sie gefunden?«
    Dartzow brachte ein »Ja« heraus. »Wir haben nichts berührt. Ist doch so? Jakobus? Jakobus, ist doch so?«
    Der dickliche Pfarrer St. Mariens schob sich vor. Sich bekreuzigend und gleichzeitig die Gebetskette abzählend, starrte er auf die Leichen. Seine Pausbacken waren rot, und Rungholt sah, dass er sich schlecht rasiert hatte.
    »Nach der Morgensuppe … also«, begann er zögernd. »Da hab ich sie so gefunden, Rungholt. Vater unser, der du bist im Himmel … Ich … Er … Mornewech, ich habe ihn noch getroffen. Am … Montag? War es Montag? Ich habe ihn auf der Straße getroffen, und er meinte, ich soll, so schnell es geht, zu ihm kommen. Er wolle beichten, hat er gesagt. Mein Gott. Er wird nicht in den Himmel kommen. Seine Sünden … Ich hätte ihm die Beichte abnehmen müssen, Rungholt. Seht sie Euch doch an! Seht sie Euch an! Mornewech, seine Schwester, seine Frau und … und Peterchen.«
    In genau dieser Reihenfolge ließ Rungholt seinen Blick wandern. Mornewech lag mit dem Rücken an der Wand, und … er lag mit dem Gesicht an der Wand, denn sein Kopf war grotesk nach hinten auf seinen Rücken geklappt. Nur noch wenige Sehnen hielten ihn auf dem Rumpf. Verkehrt herum, die Stirn nach unten, den Mund nach oben, wurde sein Gesicht durch seinen eigenen Leib an die Wand gepresst. Er war unweit der Tür gestorben. Das Blut war nach allen Seiten gespritzt und hatte den Kalk der Wand getränkt.
    Jemand hatte mit voller Wucht versucht, Mornewech den Kopf abzuschlagen. Wahrscheinlich mit einem Schwert. Mornewech hört jemanden im Flur, steht auf und will zur Tür, da wird sie aufgerissen und …
    Rungholt watete behutsam drei Schritte durch das Wasser. Eine Holzvase trieb vor dem Geköpften auf dem Wasser und eine weiße Rose, und als Rungholt genauer hinsah, konnte er etliche Blütenblätter erkennen. Er setzte seine Brille auf und griff sich die Wachstafeln. Anstatt selbst den Stilus zu bemühen, warf er Dartzow die Tafeln zu. Seine Runenskizzen hatte er vor ihrem Aufbruch heimlich glattgestrichen. »Ihr schreibt mit und lasst es dann übertragen. Für denjenigen, der Euch den Mörder fängt.« Das war nicht sein Problem, nicht sein Geschäft. Er war nur als Berater hier.
    Er begann, seine Eindrücke zu schildern, und unsicher, was zu tun war, ritzte Dartzow seine Worte mit. Mornewechs Schwester lehnte ebenfalls an der Wand. Keinen Klafter von ihm entfernt, auf der anderen Seite des Bettes. Sie war mit dem Schemel umgekippt und saß nun im Wasser, die Beine ausgestreckt, den Rücken an der Wand. Das Schwert, wenn es denn eines gewesen war, hatte ihren Hals durchstochen. Ihr Blut war durch den klaffenden Schlitz im Hals über ihre Brüste und ihren Schoß gelaufen.
    Mornewechs Frau war es nicht besser ergangen. Sie lag auf dem Bett, zur Seite gedreht, als habe der Schwerthieb sie auf die Decken gehoben. Die Klinge hatte ihren Schädel gespalten. Ihr Blut war über das ganze Bett gelaufen und hatte es derart gleichmäßig und so vollkommen gerötet, dass Rungholt zwei Mal hinsehen musste.
    Ein betuliches Schlafzimmer voller Wasser und Leichen – mit einem roten Bett aus Blut. Und in diesem Blut saß ein Junge.
    Peterchen

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