Flutgrab
von der Leibgarde aus dem Haus bringen.«
Das ließ sich der Fiskal nicht zweimal sagen. Er raffte sein Schreibzeug zusammen, griff sich das kleine Klapppult zum Umschnallen, warf Rungholt noch einen verängstigten Blick zu und stürzte aus der Tür.
Grummelnd ließ sich Rungholt vor dem Besprechungstisch auf dem Stuhl nieder, den Dartzow ihm anbot. Der Raum roch moderig. Auf drei schweren Truhen stapelten sich Codices, ein Schreibpult war vor die Butzenglasscheiben gestellt, aber nicht benutzt worden. Rungholt konnte Staub auf dem Holz erkennen. Fackeln hatten die Decke geschwärzt, und Rungholt meinte, große Wasserflecke über dem Schreibpult zu sehen.
»Der Sturm gestern. Hat’s Wasser reingedrückt. Wir hatten schon Angst, es reißt den Laubengang vom Haus.« Leicht verlegen schob der Bürgermeister Brot, Butter und ein paar Taubeneier beiseite, die auf dem ansonsten leeren Schreibtisch standen. Das zweite Frühstück nach der Morgenmesse. »Wir waren gerade dabei, Gelder für die Armenspeisungen bereitzustellen. Morgensitzung.«
Möge das Rathaus in der Erbsenmusflut versinken, zürnte Rungholt. Er verkniff sich einen sarkastischen Kommentar und sah dem Fiskal nach, wie dieser draußen den Laubengang hinunterstolperte. Das Geschrei der Fleischhauer, Böttcher und anderer Lübecker schwoll an und brandete durch den Gang.
»Ihr solltet lieber ein Heer von Söldnern bezahlen und Friedeschiffe ausrüsten. Dem Treiben der Vitalienbrüder muss endlich Einhalt geboten werden.« Sein Blick glitt über die Reste des Mahls und blieb auf den Taubeneiern haften.
Dartzow lachte auf. »Wer soll das bezahlen? Und wir brauchen jetzt eine Entspannung. Irgendeine Lösung muss her. Und nicht erst nach Monaten.« Der Bürgermeister schloss die Tür und öffnete eines der Fenster, um den Geruch des kleinen Festmahls hinauszulassen. »Aber Ihr sagtet, Ihr wisst, wo sie sind.«
Rungholt nickte. Ungeniert begann er, sich ein paar der Taubeneier einzustecken. »Sie sind am Meer.«
»Am Meer? Wie kommt Ihr darauf?« Dartzow stand wieder auf und schloss das Fenster, als wollte er verhindern, dass der Pöbel sie belauschte.
»Mein Kapitän ist wieder aufgetaucht.«
»Das ist schön für Euch. Und Euren Kapitän.« Ungeduldig musterte der Bürgermeister Rungholt.
Mit einem lauten Klack stellte dieser die kleine Tonschale zwischen die Teller. Es war das Schälchen, in das er die Tannennadeln und Agnes’ Fingernageldreck gestrichen hatte. »Seht Ihr, wie es schimmert?«
Zögerlich kam Dartzow näher und spähte hinein. »Das habt Ihr bei Agnes gefunden«, stellte der Bürgermeister fest und sah sich den merkwürdig schimmernden Sand genauer an. »Und das ist vom Meer?«
Rungholt stippte mit dem Finger in den glitzernden Sand und rieb ihn zwischen den Fingern. Zwischen den Sandkörnern glitzerte es perlmuttfarben. »Mein Kapitän meint, es sei Muschelschlamm. Klein geriebene Muschelschalen. Wenn die Wellen die Muscheln über den Sandstrand …«
»Ich weiß, wie Muschelschlamm entsteht … Gut, aber was hat Agnes mit den Kindern zu tun?«
»Das weiß ich noch nicht, aber das werde ich noch herausfinden.«
Diese Aussage ließ Dartzow lächeln.
»Was nicht heißen soll«, warf Rungholt schnell ein, »dass ich mich auf die Suche nach den Kindern machen werde.«
»Natürlich nicht.« Der Bürgermeister zog das Messer aus der Butter und wischte es an seinem Seidentuch ab. »Nehmen wir an, es ist wirklich Muschelschlamm. Wo sollte ich da suchen? Fast die gesamte Küste hat Sand.«
»Weiter eingrenzen kann ich es nicht. Aber wenn Agnes und Peterchen von der Küste hierher geflohen sind, zu Fuß, werden die Kinder kaum in Stralsund festgehalten. Es muss nahe Lübeck sein. Schickt Suchtrupps an die Travemündung. Lasst sie den Küstenstreifen bis nach Scarbuce und Boltenhagen absuchen.«
Der Bürgermeister seufzte. »Ich habe keine Männer, die ich abstellen …« Er brach ab, als er Rungholts amüsierten Blick bemerkte.
»Ihr wollt es nicht verstehen, oder?«
»Was?«
»Dass Lübecks Wohl und Wehe an den Kindern hängt, Dartzow. Schickt, verdammt noch mal, Männer an die Küste!«
Schweigen. Endlich schien Dartzow zu begreifen, dass er so vielleicht den Pöbel würde ein wenig beschwichtigen können. »Ihr habt wohl Recht. Ich … werde mir etwas überlegen. Habt Dank.« Er schob Rungholt das Tonschüsselchen hin, erhob sich und trat zur Tür.
Aber Rungholt hatte offenbar nicht die Absicht, schon zu gehen. »Da wäre noch
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