Flutgrab
etwas.«
»Ja?«
»Ich …« Rungholt zögerte. Er stand auf und sah kurz aus dem Fenster: Drei Männer in langen, weiten Heuken, die Kapuzen ins Gesicht gezogen, eilten mit brennenden Fackeln auf das Rathaus zu. Die Menge skandierte: »Brennen! Brennen! Brennen!«
Fast gleichmütig wandte sich Rungholt ab und steckte das letzte Taubenei ein. »Ich muss mir Peterchens Leiche noch einmal ansehen.«
»Ihr müsst was ?« Als hätte er einen Geist gesehen, starrte der Bürgermeister seinen Gast an. Die Tür, die er ihm schon eine Weile aufhielt, ließ er mit Schwung wieder zufallen.
Rungholt fühlte nach dem Schädel, der in einem Sack an seiner Seite baumelte. »Ihn aufschneiden, das Peterchen«, sagte er so ruhig wie möglich. »Vielleicht. Ihn genau ansehen. Am besten wäre es, wir würden ihn in meine Brauerei bringen.«
Dartzow sah Rungholt fassungslos an. »Hört Euch reden, Rungholt!«
»Es geht nicht anders. Wir müssen herausfinden, woran er und Agnes gestorben sind.« Das musste er doch begreifen. Wenn er sich und die Kinder retten will, muss Dartzow einwilligen.
»An einem Schwertstich? War es nicht so? Und Agnes … Was habt Ihr da gesagt? Verhungert? Erstickt?« Nervös knetete Dartzow seine Unterlippe und musterte ihn. Ihm kommen Zweifel, dachte Rungholt. Zweifel, ob mein Spitzname Bluthund nicht doch »Leichen schnüffeln« meinen könnte.
»Und morgen fällt Euch dann eine neue Tollerei ein, Rungholt?«
»Ja … Nein!«, berichtigte sich Rungholt. »Die beiden gehören zusammen.«
»Eine liebestolle Magd und ein entführtes Kind?«
»Beide waren plötzlich verschwunden. Beide haben diese Zeichen auf dem Arm. Beide tauchen plötzlich wieder auf … Und Peterchen … Peterchen war krank. Er kommt so unerwartet heim und ist krank.«
»Krank?«
Bevor Rungholt antworten konnte, ließ Lärm vom Markt Dartzow, der noch immer an der Tür stand, zusammenzucken.
Gebrüllte Befehle. Eisen schabte auf Eisen. Schwere Stiefel im Vestibül. Unten trieben die Riddere die Menge auseinander. Entsetzte Aufschreie. Rungholt unterdrückte den Drang, sich noch einmal zum Fenster umzusehen. Er wusste auch so, dass die Fleischhauer, Böttcher, Witwen und Salunenmaker kopflos davonrannten. Im Gegensatz zu ihm wollte der Bürgermeister sehen, was geschah, doch Rungholt trat auf ihn zu, nahm ihn beim Arm und fuhr leise fort: »Die Suppe, die heißen Steine im Bett. Die sorgenden Eltern … Erinnert Euch!«
Der Bürgermeister senkte den Kopf, Rungholt ahnte, wie das Bild des Blutbads in seinem Gegenüber aufstieg.
»Er war krank. Und Agnes war es sicher auch«, fuhr er fort. »Wir müssen uns anschauen, was Peterchen hatte. Vielleicht finden wir so heraus, wer sie entführt hat. Und warum.«
Dartzow seufzte, aber immerhin zögerte er nur und lehnte Rungholts Ansinnen nicht rundheraus ab. »Ich denke, ich schicke zunächst ein paar Reiter an die Küste. Sie sollen sehen, ob sie etwas finden. Peterchen könnt Ihr nicht mehr in Augenschein nehmen, Rungholt. Wir haben ihn bereits auf dem Armenacker vergraben. Mit seiner Familie.«
»Das stört mich nicht.«
Wahrscheinlich lag es an der Nüchternheit, mit der Rungholt den Satz ausgesprochen hatte. Zwei Atemzüge lang lag tiefe Stille in dem Raum, und die beiden Männer sahen sich in die Augen. Dann musterte Dartzow Rungholt von oben bis unten. Schließlich sagte er rau: »Ihr habt Agnes … Ihr habt sie ausgegraben. Das habt Ihr doch? Habe ich Recht?«
Rungholt leugnete es nicht. Er versuchte, dem Blick des Bürgermeisters gelassen standzuhalten. Doch innerlich schnürte es ihm die Brust zu. Was, wenn er sich in Dartzow täuschte. Was, wenn der Bürgermeister ihn verriet? Ihn auf den Köpfelberg schickte für seine gottlose Tat?
»Oh mein Gott. Ihr seid auf dem Friedhof gewesen und habt Meenkens’ Magd geschändet?« Dartzows Lippen bebten, eher vor Zorn als vor Ekel.
»Ich habe niemanden geschändet«, versuchte Rungholt ihn zu besänftigen. »Ich will Euch helfen. Das ist alles.«
»Das ist alles?«
»Manchmal muss man Grenzen überschreiten, um das Richtige zu tun.«
»Für diese Kinder, diese Handwerkerkinder«, Dartzow nickte zum Fenster, »gehe ich nicht in die Hölle.«
»Da seid Ihr doch längst.« Wir alle. Seine Hand tastete nach dem Beutelchen an seinem Gürtel. »Seht Euch doch um. Sie werden nicht länger Wurzeln fressen. Sie werden nicht länger dulden, dass jemand ihre Kinder holt. Sie wollen Euer Rathaus anstecken! Lasst mich Peterchen
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