Flutgrab
Bootsrümpfe lag, war ein Brandzeichen eingelassen. Wahrscheinlich war Poling zu viel geklaut worden, und er hatte deswegen seine Sachen markiert.
Rungholt legte die Stirn in Falten. Er kannte dieses Zeichen bereits.
Eine Kogge hinter zwei gekreuzten Hämmern.
27
Die Stavengasse war ein Fluss. Kniehoch strömte das Regenwasser den Lübecker Hügel hinab zum Krähenteich. Alle Keller standen randvoll, und noch immer goss es vom Himmel, schäumte über die Dachkanten und stürzte als Wasserfall an den Backsteinfronten hinab.
Matte Dunkelheit hatte sich in die Gassen gesenkt, obwohl die Sonne noch gut drei Handbreit über der Trave hätte stehen müssen. Zwischen den schwarzen Wolkentürmen zickzackten glutrote Risse wie zerfranste Messerstiche, aus denen leuchtendes Blut rann.
Langsam watete Rungholt über die Straße, zögerte aber in der Mitte, aus Angst, ihm könnte es wie seinem Verfolger ergehen. Die Vorstellung, einen Schritt zu tun und jäh bis zum Hals in dem vor Dreck strotzenden Wasser zu stecken, auf dessen Grund er nicht blicken konnte, schnürte ihm den Hals zu. Tastend, als wäre er sturzbetrunken, schob er sich vor. Erde, Blätter, Holzstücke, die Kadaver von Hunden und Katzen trieben vorbei. Das Regenwasser war trübe wie die Gewitterwolken.
Die Bohlen der Straße konnte er nicht mehr spüren, weil sie bereits mit Schlick und Steinen überschwemmt waren. Er stieß gegen ein paar Backsteine, die die Fluten mitgespült hatten, und fluchte laut.
Tastend schob er seine Trippen vor und betete, nicht zu stolpern.
Platea Nyelis, so nannte man die Gasse zwischen St. Aegidien und Stadtmauer. Nach dem biblischen Noah. Der Gedanke ließ ihn knurren. Der alte Säufer hätte seine Arche hier gut ausprobieren können.
Sich über seine eigene Angst ärgernd, wischte er sich den Regen aus dem Gesicht und fixierte den Durchlass zum Wulffsgang. Jemand hatte Bretter davorgestellt und sie mit Sandsäcken abgesichert. Dahinter lag der Durchlass zwar nass und sumpfig da, schien aber von der Sintflut verschont worden zu sein.
Sintflut. Langsam kam es Rungholt tatsächlich vor, als habe Gott den Lübeckern all dies Wasser geschickt, um sie allesamt zu ertränken. Lass die Sünder ersaufen.
Ein Blitz zuckte, ließ den sich voranwälzenden Strom für einen Lidschlag aufflackern. Panik kam in Rungholt auf. Der Donner folgte zu schnell. Er hatte kaum bis vier gezählt. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Beruhige dich, ermahnte er sich und schob sich weiter durch die Flut. Gleich hast du den Gang erreicht. Wir sollten der Natur nicht mehr ausgeliefert sein. Wir sollten alle Flüsse einsperren, hinter Mauern. Städte bis in die Berge bauen und Seen zuschütten. Wir sollten das Meer bändigen und Deiche, höher als Kirchtürme, aufkippen, wir sollten die Wälder roden und Gott endlich zeigen, wozu wir fähig sind. Nicht Wetter noch Tier soll jemals wieder einen der Unsrigen töten.
Ein halbes Dutzend Ratten trieb mit aufgedunsenen Leibern an ihm vorbei. Angewidert stieß er zwei von ihnen mit dem Unterarm von sich und erreichte die andere Straßenseite.
Er stieg über die Barriere und atmete durch. Dank der Sandsäcke und Bretter stand ihm das Wasser hier bloß bis zu den Knöcheln.
Während er durch den Gang zum Hinterhof watete, prüfte er den Sitz seines Schwerts. Marek hatte ihn begleiten sollen, aber Sinje hatte sich an ihren Schatz geklammert und ihn partout nicht loslassen wollen.
»Das ist dunkle Zauberei«, hatte sie kopfschüttelnd gesagt. »Geh nicht zu dieser Frau.«
»Wenn sie die Einzige ist, die es lesen kann …«, war seine Antwort gewesen.
»Sie ist nicht ohne Grund der einzige Mensch in Lübeck, der den Schädel lesen kann. Rungholt, ich flehe dich an, geh nicht. Die Knochenfrau ist unberechenbar.«
»Ist nicht das erste vorlaute Weibsstück, dem ich begegne.«
»Aber die erste Töversche … Die Hexe wird großes Unheil über dich bringen. Selbst wenn sie es lesen kann, wird sie dich verfluchen, Rungholt. Diese Knochenfrau in der Stavengasse ist das Böse.«
»Nein. Das Böse ist da draußen.« Angst und Wut waren zugleich in ihm aufgestiegen. Angst vor dem, was das Böse mit den entführten Kindern anstellen mochte, und Wut darüber, wie hilflos er sich fühlte. »Das Böse entführt Kinder, Sinje. Sie ist nur eine alte Frau, was soll sie mir schon antun?«
Er trat aus dem Durchlass wieder in den Regen, der ihm wie dutzende Schleier aus Gaze die Sicht nahm.
Schwarze Holzhütten duckten sich
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