Flutgrab
»Der Keller ist kalt. Das Wasser ist kalt. Die Mornewechs haben sich nicht viel bewegt. Vor allem Peterchen nicht, der bereits seit Stunden im Bett lag.«
Rungholt musste innerlich fluchen. Das war ihm am Mittwochmorgen völlig entgangen. Die Kälte, in der die Leichen lagen, war der Grund, weswegen die Leichenstarre langsamer ablief. Nachdem er von diesem unsäglichen Keller zurückgekehrt war, hätte er im At Tasrif nachsehen sollen. Abulcasis hatte schon vor Jahrhunderten Tabellen angelegt, wie schnell die Glieder bei Hitze und Kälte steif werden.
De Kraih tupfte sich den Mund ab, ergriff dann das Wort: »Einer meiner Schreiber wollte zu Mornewech, um ein paar Witten einzutreiben, da läuft ihm dieser Berg von Mann über den Weg. Mit einem Hammer in der Hand. Er ist direkt aus dem Keller gekommen.«
»Er ist ihm, Scheiße noch mal, nach«, warf d’ Alighieri ein. »Aber der Mann ist entkommen. Das …«
»… weiß ich bereits.«
De Kraih nickte. »Herr d’ Alighieri hat befürchtet, Ihr würdet Euch nicht auf die Suche machen, wenn Ihr wüsstet …«
»Wir haben es bereits besprochen.« Rungholt leckte sich Auerhahnfett vom Handrücken, er musste mit der Linken essen und hatte sich mit Pfefferminzsauce vollgekleckert. Der Vogel war eine echte Kostbarkeit, perfekt gebacken und mit Früchten zubereitet. Das Mahl eines Königs.
»Ihr wisst ja, Rungholt, wir Florenzer neigen ein wenig zum Pathos. Ja, Scheiße noch eins, das tun wir. Aber ohne Übertreibung, Ihr seid die letzte Möglichkeit, die meine Zwillinge noch haben. Ich kann nicht zulassen, dass sie wie Peterchen krepieren.«
Rungholt knurrte und aß noch einen Bissen, bevor er nickte. D’ Alighieri hob sein Glas. »De Kraih, lasst uns alle anstoßen. Und dann reicht uns das mistige Papier.«
Kurz darauf schob de Kraih Rungholt ein Pergament hin. Es war das Schriftstück, das er vorhin ins Reine gebracht hatte. Ein Vertrag, in dem noch einmal klar aufgeführt war, was sie bei ihrem Handschlag beschlossen hatten. Rungholt tastete nach seiner Brille, aber er fand sie nicht, also fuhr er die Zeilen sorgfältig ab. Die Krähe hatte das Dokument in Deutsch aufgesetzt. Rungholt fand keine Klauseln, die ihre Abmachung verfälschten.
»Seht es als Bestätigung des Handschlags. Ihr sucht doch weiter?«
ZWEITES BUCH
Flut
Das stille, das ewige Meer.
Tief in die Luken zischt
Weiß und wütig der Gischt.
Die Wogen kennen nicht Rast noch Ruh,
Sie wühlen und spülen immerzu.
Thurm und Flut, Johann Gottfried Kinkel
32
Stimmengewirr erfüllte die drei Schiffe St. Mariens. Während Vikare an fünf der Altäre Memoria lasen, stritten zwei Schreiber in der Briefkapelle mit einem Händler über den genauen Wortlaut eines Schriftstücks. Ein paar Gerber und Seiler hatten sich zu den Streitenden vor den Stand gesellt und verfolgten aufmerksam den Disput. Im nördlichen Seitenschiff spielten Kinder Fangen in den Wasserbächen, die durch die Kirchentür eingedrungen waren. Sie sprangen johlend in das Wasser und spritzten drei schimpfende Mütter voll, die versuchten, sie zu bändigen.
Rungholt sah vom leise betenden Marek hoch zum Kreuzrippengewölbe. Höher als zwanzig Klafter ragte das Mittelschiff mit seinen Pfeilern in den Himmel über Lübeck. Die gekalkten Steine begannen im schummrigen Morgenlicht sanft zu glimmen. Gewöhnlich leuchteten sie in allen Rot- und Orangetönen, wenn die Sonne aufging und ihre ersten Strahlen durch die farbigen Glasfenster fallen ließ. Wie die meisten Kirchen zeigte auch St. Marien nach Osten, nach Jerusalem. Doch bei diesem Wetter glitten die bunten Glasfiguren des Obergadens bloß als gespensterhafte Schatten über die Säulen und den Gewölbehimmel mit seinen feinen Rippen.
Der prächtige Bau erfüllte Rungholts Herz stets aufs Neue mit Stolz. Beinahe hundert Jahre hatten die Lübecker an der Kirche gebaut, und noch nie war ein so prächtiges Gotteshaus allein aus Backsteinen errichtet worden.
Gebaut, um Gott zu huldigen, sollte seine Pracht gleichzeitig allen im Ostseeraum zeigen, wie mächtig und einflussreich die Lübecker Kaufleute waren. Selbst den Domherren hatte man die Stirn geboten.
Eigenartig, dachte Rungholt. Wie wir jeden Tag Glauben und den lästerlichen Mammon miteinander verbinden. Hatte Jesus nicht alle Händler aus dem Tempel Jerusalems getrieben, weil sie das Haus seines Vaters entehrten? Wir bauen ein Gotteshaus und behaupten, es solle unsere Demut vor Gott beweisen, aber eigentlich wollen wir angeben.
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