Folge dem weißen Kaninchen
religiös zu sein.
Spiritualität und Welterklärung
Eine Weltanschauung ist dann eine Religion, wenn ein Bündel der folgenden Elemente zusammenkommt: der Glaube an übersinnliche Kräfte und höhere Wesen wie Götter, Geister oder Dämonen, spirituelle Gefühle, Mythen und Geschichten, sakrale Bauten und Objekte, ein Moralkodex, geistige Oberhäupter und eine ritualisierte Lebensweise. Das Judentum, das Christentum und der Islam sind demnach prototypische Religionen, denn sie beinhalten all diese Elemente. Aber auch Systeme mit nicht so einschlägigen Charakteristika zählen für die meisten Menschen als Religionen. Im Buddhismus gibt es kein höheres Wesen, sondern in einigen Strömungen nur einen als heilig angesehenen Führer, den Dalai Lama. Der japanische Schintoismus kennt keine geistigen Führer, sondern nur den spirituellen Moment am Gebetsschrein: Zwar existiert kein Schöpfergott, Gottheiten können sich allerdings in unendlich vielen Weisen manifestieren, beispielsweise als Tiere oder Menschen. Quäkern in England sind heilige Objekte, Rituale oder Liturgien weitgehend fremd. Sie nehmen nicht einmal die Bibel besonders ernst. Ihnen ist aber die spirituelle Erfahrung wichtig.
In weiten Teilen der Religionstheorie ist der Gottesglaube das zentrale Merkmal jeder Religion, daher bezweifeln einige, dass beispielsweise der Buddhismus eine Religion ist. Doch das ist sehr aus der westlichen Perspektive gedacht. Wir sind in einer Kultur aufgewachsen, in der der Glaube an ein allmächtiges Wesen typisch für eine Religion ist. Aber warum soll das das Kriterium sein? Evolutionäre Anthropologen wie der Amerikaner Scott Atran und der Franzose Pascal Boyer weisen darauf hin, dass die meisten Religionen auf der Welt gar keinen abstrakten Schöpfergott kennen, sondern eher an örtlich gebundene Geister, Hexen und verstorbene Vorfahren glauben, mit denen sie kommunizieren und denen sie konkrete Taten zuschreiben.
Mehr noch, je weiter ein Glaubenssystem von unserer Kultur entfernt ist, desto eher sind wir geneigt, von «Aberglaube» oder «Mythos» statt von «Religion» zu sprechen. Dabei erfordern Engel wie die sechsflügligen Seraphim der Bibel nicht weniger Mythologie als andere aus Mensch und Tier gekreuzte Fabelwesen wie die Sphinx oder der hinduistische Ganesha, ein drolliges Dickerchen mit Elefantenkopf. Manche lösen den Disput daher terminologisch, indem sie zwischen Religionen mit Gott und ohne Gott unterscheiden.
Wichtig zum Verständnis von Religionen ist allerdings eine andere Unterscheidung, nämlich zwischen einem
spirituellen Grundgefühl
und der
Welterklärung
. Mit «Spiritualität» oder einem «spirituellen» oder «mystischen» Gefühl ist nicht die Überzeugung gemeint, dass es eine höhere Macht oder ein höheres Prinzip gibt, sondern vielmehr eine gar nicht sprachlich oder begrifflich verfasste Ahnung, die viele erst nachträglich so in Worte fassen: «Da ist noch etwas, alles ergibt einen Sinn, es herrscht eine höhere Ordnung, ich fühle mich aufgehoben.» Auch andere Erfahrungen kann man als spirituelle Erlebnisse deuten. Wie Kant erfasst viele Menschen eine tiefe Ehrfurcht, wenn sie in den Sternenhimmel blicken. Andere empfinden
ozeanische Gefühle
, als gäbe es keine Grenze mehr zwischen dem eigenen Körper und dem Rest der Welt, als verschmölze alles zu einem einzigen Ganzen.
Der Soziologe Max Weber hat in einem Brief geschrieben: «Ich bin … religiös absolut ‹unmusikalisch› und habe weder Bedürfnis noch Fähigkeit, irgendwelche seelischen ‹Bauwerke› religiösen Charakters in mir zu errichten.» Der Satz scheint sich auf das ganze Erklärungsmodell einer Religion zu beziehen. Analog zur religiösen Musikalität kann man von einer
spirituellen Empfänglichkeit
sprechen, einem Hang zu spirituellen Gefühlen. Spirituelle Menschen sind viel eher geneigt, die religiösen Welterklärungsmodelle zu akzeptieren, die zu ihrem Gefühl passen. Was für nicht spirituelle Menschen logisch dissonant klingt, erzeugt in ihren Ohren die richtige Melodie.
Spiritualität ist ein Kernelement jeder Religion. Welterklärungsmodelle und Moralsysteme sind zunächst davon unabhängig. Das spirituelle Gefühl wird einfach mit dem jeweiligen Glaubenssystem vereint. Deshalb verspüren unspirituelle Menschen in einer religiösen Kultur ebenso ein Unbehagen wie spirituelle Menschen in der modernen naturwissenschaftlichen Gesellschaft. Die einen zweifeln an der Erklärungskraft der religiösen
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