Folge dem weißen Kaninchen
Rede ist, dann geht es gerade um die absichtlichen, willentlichen Handlungen, also diejenigen Taten, die man selbst vollzieht und kontrolliert – im Gegensatz zu den «unwillkürlichen», also automatischen Bewegungen. Beide Bedeutungen haben etwas gemeinsam: Sie drücken das Gegenteil von «Zwang» oder «Notwendigkeit» aus – einmal als Zufall und einmal als Kontrolle des Handelnden. Beide Bedeutungen darf man aber nicht vermischen, denn die Grundlosigkeit des Zufalls gibt dem Handelnden keine Kontrolle, und schon gar nicht Freiheit. Der englische Philosoph John Locke hat etwa 250 Jahre vor dem Existenzialismus erklärt, warum Freiheit nicht darin bestehen kann, sich von der Vernunft loszureißen, denn sonst wären «Verrückte und Narren die einzigen Freien». Gründe, so Locke, machen uns «geneigt», etwas zu tun, aber sie legen uns nicht alternativlos fest.
Tatsächlich ist der Zusammenhang zwischen Freiheit und Zufall genau andersherum als von den Existenzialisten angenommen: Solange wir Gründe haben, handeln wir nach ihnen. Nur wenn sie fehlen, müssen wir die Münze werfen, zum Beispiel um fair zu sein, wie der Schiedsrichter, wenn er den Mannschaften eine Seite zuteilt. Oder: Stellen Sie sich vor, Sie stehen mit einer langen Einkaufsliste in der Hand im Supermarkt und müssen aus jedem Regal mindestens ein Produkt holen. Mal angenommen, Sie stehen von allen Reihen gleich weit entfernt. Dann ist es völlig egal, wo Sie anfangen. Wenn Sie jetzt nach guten Gründen suchten, würden sie niemals mit dem Einkauf fertig werden. An dieser Stelle müssen Sie tatsächlich eine Münze werfen, allerdings metaphorisch, nämlich im Geiste. Sie entscheiden sich dann im doppelten Sinn willkürlich für eine Reihe, denn irgendwo muss man ja anfangen. Übrigens: Fragen Sie sich, ob Sie die vielen Energydrinks wirklich wollen.
Der blanke Zufall macht uns genauso unfrei wie der Determinismus. Wir brauchen eine zwanglose Gleichförmigkeit, um frei zu sein. Doch auch in so einem Szenario ist nicht jeder frei. Was heißt es also genau, frei handeln zu können?
Die Freiheitsfreunde
Die Freiheitsfreunde sagen, dass wir Menschen oft genug die Wahl haben und deshalb frei sind. Dazu darf die Welt nicht festgelegt sein. Bei einem erneuten Durchlauf könnte sie sich anders entwickeln. Nur wenn der Weltlauf sich anders verzweigen kann, haben auch wir Menschen darin alternative Möglichkeiten. Freiheit kann man aber nicht beweisen. Unsere Freiheit erleben wir jeden Tag. Die Beweislast liegt also immer beim Freiheitsfeind, denn der vertritt mit dem Determinismus die stärkere metaphysische Annahme.
Der Philosoph Arthur Schopenhauer war überzeugt, dass der Mensch tun kann, was er will, jedoch nicht wollen kann, was er will. Er gesteht uns also Handlungsfreiheit zu, aber keine Willensfreiheit. Noch heute hört man Argumente, die in diese Richtung gehen. Wirklich frei seien wir nur, wenn wir auch unsere Wünsche selbst wählen. Die aber kämen von «der Gesellschaft», «der Umwelt», «der Erziehung», «der Mode», «den Genen», «den Telenovelas» oder woher auch immer. Jedenfalls nicht von uns.
Diese Beobachtung ist zwar in vielen Fällen richtig, die Schlussfolgerung ist allerdings nicht gültig. Natürlich haben wir kaum einen unserer Wünsche selbst gewählt. Daraus folgt allerdings nicht, dass wir ihnen hilflos ausgeliefert sind. Im Gegenteil: Wir haben beispielsweise gelernt, unsere grundlegenden Wünsche zu unterdrücken: Wir fassen nicht alles an, was wir anfassen wollen. Wir nehmen nicht alles in den Mund, was wir in den Mund nehmen wollen. Und wir essen nicht alles, was wir essen wollen. Erwachsenwerden besteht in der schmerzlichen Erfahrung, dass die Erfüllung der eigenen Wünsche oft versagt bleibt. Aber nicht nur das: Wir können immer an uns arbeiten. Wenn das nicht so wäre, wären nicht nur Suchttherapien sinnlos, sondern auch einfache Aufforderungen wie: «Reiß dich mal zusammen!» Schließlich können wir unsere Wünsche ganz einfach beeinflussen, indem wir über sie nachdenken und manche von ihnen als albern oder unangemessen verwerfen. Klar, einige unserer kleinen Ticks und Macken sitzen tief. Sie sind so fest verdrahtet, dass wir lange an uns arbeiten müssen, um sie zum Verschwinden zu bringen. Unmöglich ist es dennoch nicht.
Unserer Freiheit sind Grenzen gesetzt durch unsere Bedürfnisse, Wünsche und Charakterzüge genauso wie durch die Schwerkraft. Aber innerhalb dieser Grenzen haben wir
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