Folge dem weißen Kaninchen
Wahlmöglichkeiten. Anhänger der römisch-griechischen Philosophieschule
Stoa
nahmen an, dass man sich gegen sein Schicksal nicht auflehnen könne. Die berühmte stoische Gelassenheit ist die angemessene Haltung in jeder Lebenslage. Ein Stoiker bleibt auch dann lässig und entspannt, wenn er von schlimmen Schicksalsschlägen heimgesucht wird. Aus dieser Tradition stammt folgendes Gleichnis: Der Mensch ist wie ein Hund an einen Karren geleint und muss im Fahrttempo mitlaufen. Tut er es nicht, wird er mitgeschleift. Läuft er zu weit vor, gerät er in die Speichen. Mit anderen Worten: Das Schicksal zieht uns unausweichlich in eine Richtung. Man kann diesen antiken Stoff aber auch gegen den Strich bürsten: Innerhalb der Leinenlänge hat der Hund seine Freiheiten, nach rechts oder links zu laufen. Sicher, wir Menschen sind arme Hunde. Wir wissen nicht, wer uns an den Wagen gebunden hat und warum man uns an der kurzen Leine hält. Aber in diesem überschaubaren Rahmen sind wir frei. Und immerhin geht es vorwärts.
Allen Kreaturen im Universum sind Grenzen gesetzt, auch den denkbar mächtigsten Außerirdischen. Innerhalb dieser Grenzen haben wir Wahlmöglichkeiten. Das gilt nicht für alle Lebewesen: Bäume, Quallen, Ameisen und Hühner sind sicherlich nicht frei, weil sie gar keine handelnden Wesen sind. Sie leben und zeigen Verhalten, aber sie führen keine Handlungen aus, denn sie tun nichts absichtlich und haben auch keine Pläne. Bei Menschenaffen und Delphinen ist man sich nicht so sicher, denn deren Verhalten ähnelt unserem oft so sehr, dass wir sie für Personen halten können. Der springende Punkt ist in jedem Fall, dass man die Freiheitsfrage gar nicht unabhängig von der Handlungsfrage stellen kann. Nur handelnde Wesen können überhaupt frei sein, und nur freie Wesen können überhaupt handeln. In unserem Verständnis gehört die Wahlmöglichkeit schon zum Begriff der Handlung dazu: Ein Wesen, das niemals die Wahl hat, handelt auch nicht.
Ein gruseliges Beispiel für diesen Zusammenhang stellt eine seltene neurologische Störung dar, die sogenannte
anarchische Hand
. Die Symptome dieser Störung sind so, als seien sie eigens für Stanley Kubricks satirischen Film
Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben
aus dem Jahr 1964 erfunden worden. Eine Figur dieses Films, der deutsche Wissenschaftler Dr. Seltsam, ist Berater des amerikanischen Militärs. Er hat eine Eigenart: Sein rechter Arm erhebt sich immer wieder wie von selbst zum Hitlergruß. Nur mit Mühe kann er ihn mit der anderen Hand stoppen. Ähnlich geht es Patienten, die an der anarchischen Hand leiden, nur erleben sie eine ganze Reihe von Bewegungen, die wie von selbst beginnen. Die Patienten haben Schädigungen im motorischen Kortex, dem Bewegungszentrum in ihrem Hirn. Ansonsten sind sie aber geistig vollkommen gesund. Sie beschreiben ihre kranke Hand, als habe sie einen eigenen Willen. Die Liste der anarchischen Tätigkeiten ist kurios: Manchmal klaut die Hand Essen vom Teller des Sitznachbarn, ein andermal korrigiert sie Züge in einem Brettspiel. Ein Patient, der sich morgens mit der gesunden Hand das Hemd anzog, musste mitansehen, wie seine anarchische Hand es von unten wieder aufknöpfte. In einem Fall soll die Hand sogar versucht haben, ihre Besitzerin nachts im Schlaf zu würgen.
Die Störung betrifft übrigens nicht nur die Hände, sondern alle Gliedmaßen. Auch Tiere können darunter leiden. Ein Hund wurde von seinem anarchischen Hinterbein immer wieder am Kopf gekratzt. Da das arme Tier nicht verstand, was mit ihm geschah, biss es sich immer wieder ins eigene Bein, als sei es ein Störenfried. Von außen sehen die Bewegungen der anarchischen Hände wie echte Handlungen der Patienten aus: Sie sind vielschichtig, zielgesteuert und passen oft gut in den Kontext. Die anarchischen Handbewegungen sind aber keine Handlungen, denn weder haben die Patienten das Gefühl, etwas selbst zu tun, noch haben sie die Wahl, sich gegen eine Bewegung zu entscheiden. Allenfalls eine indirekte Kontrolle ist ihnen geblieben: Sie setzen sich einfach auf die kranke Hand, damit sie keinen Unfug anstellen kann. Ein Patient konnte seine Hand stoppen, indem er sie laut anschrie.
Wie es zu den Bewegungen der anarchischen Hand kommt, ist im Detail noch unklar. Man weiß aber schon, dass sie von Objekten wie Tellern, Brettspielen und von anderen Reizen aus der direkten Umgebung ausgelöst werden. Im Erleben sind sie wie ein Schluckauf oder ein
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